Ob sie sich je getroffen haben, ist unklar: der belgische Dramatiker Maurice Maeterlinck und die amerikanische Tänzerin Isadora Duncan. Dass sie voneinander gewusst haben, ist sehr wahrscheinlich. Zumindest ließ sich Duncan in Paris, so schreibt ihr Biograph Jochen Schmidt, Maeterlincks Theaterstück Pelléas und Mélisande vorlesen.1 Zwei große Künstlerfiguren der Jahrhundertwende, zwei entgegengesetzte Temperamente: Der 1862 in Gent geborene, großgewachsene Schriftsteller wird als schüchtern und introvertiert beschrieben, die 1877 in San Francisco geborene Tänzerin als expressiv und gesellschaftssüchtig. Auf den ersten Blick haben beide ästhetisch wenig miteinander zu tun: Der reduzierte poetische Symbolist auf der einen, die radikale Körperavantgardistin auf der anderen Seite. Und doch gehören beide zur selben Zeit zu den Begründern der Moderne. Sie sind Wegbereiter derselben revolutionären Überzeugung, nach der Form und Existenz das Zentrum des künstlerischen Ausdrucks bilden. Beide reißen auf ihre Weise die Einheit von Raum und Zeit ein, befreien Worte und Bewegungen aus dem Korsett konventioneller dramaturgischer Strukturen. Duncan tanzt mit nackten Füßen, Maeterlinck ersetzt Handlung durch Andeutung. Diese Arbeit lässt sich von der Vorstellung überzeugen, dass verschiedene Geister einer Zeit zusammen den „Zeitgeist“ bilden, dass sie auf unbewusste Weise in Beziehung zueinanderstehen und ihr Werk gegenseitig beeinflussen. Den ersten Teil der Arbeit bilden drei imaginäre „Geistergespräche“ des Künstlers und der Künstlerin, drei Dialoge, die „M“ und „Isa“ so geführt haben könnten, wenn sie sich denn getroffen hätten. „M“ und „Isa“, nicht: „Maeterlinck“ und „Duncan“, denn es soll keinesfalls der Anschein erweckt werden, als handelte es sich bei ihrer Rede um authentische Zeugnisse. Und doch greifen diese Unterhaltungen auf verschiedenen authentischen Quellen zurück, sind aus dem Denkkosmos des Künstlers und der Künstlerin herausgefühlt. Die wortwörtlichen Zitate sind durch Fußnoten gegenzeichnet. Dem Diktat der Chronologie wird hier und da widersprochen, die Phantasie schließt manche Lücken. Es ist die freie Skizze eines fiktiven Zeitgeistdokuments, die hier versucht wird. Im zweiten Teil folgt dann eine werkbiographische Einordnung der historischen Persönlichkeiten mit Schwerpunkt auf den Aspekten, die für meine choreografische Überschreibung wichtig sind. Um sie geht es im dritten Teil, der hoffentlich einen Einblick in meine praktische Auseinandersetzung mit Maeterlincks Einakter Interieur (1894) geben soll. Diesen Einakter will ich in einer Performance gewissermaßen mit Duncans Körper konfrontieren. Das verbindende Element zur Gegenwart sehe ich in der Suche nach einer Ausdrucksform für die unsichtbaren Scores des Bewusstseins. Eine Suche, auf der man nur mit Fantasie fündig werden kann.