Wenn ich mich umschaue, sehe ich Menschen. Wenn ich genauer hinschaue, sehe ich Menschen, die mir sehr ähnlich sind, soll heissen: ich befinde mich in einer homogenen Gruppe. Und dann denke ich, da stimmt etwas nicht. Aufgewachsen bin ich mit einem jüngeren Bruder der ein Handicap1 hat. In einem dreihundert Seelen Bündner Dorf umschlossen von Bergen und eher abgeschottet für manch Städter*in. In diesem Dorf gab es eine sonderpaedagogische Einrichtung für Menschen mit Handicap. Am Ende des Dorfes ein Wohnheim für Menschen mit psychischen Krankheiten. Für mich gehört es dazu, mich in einer
heterogenen Umgebung zu bewegen, alles andere ist für mich befremdlich und doch musste ich mir eingestehen, dass ich mich seit ich mein Heimatdorf verlassen habe, eher an eine homogene Gesellschaft gewöhne. Ich habe dann nach Möglichkeiten gesucht mich in meiner Theaterarbeit in Gruppen zu begeben oder selbst welche zu bilden, die inklusiv sind. Sobald das Projekt abgespielt ist, löst sich die Gruppe auf und alle kehren in ihre Nischen zurück. So will es das System. Jedes Mal ein kleiner Weltuntergang für mich und ich merke: Ich will mehr davon und ich will es behalten. Dadurch, dass ich einen Bruder habe, der immer damit konfrontiert ist, als Mensch mit Handicap gelesen zu werden, bekomme ich die Art von Ausgrenzung, die er erlebt, hautnah mit und in einer Form betrifft es mich dadurch auch. Es sind aber nicht nur die Zuschreibungen, die er bekommt, die ihn (zunehmend) belasten, sondern vor allem auch die gesellschaftliche Ausgrenzung, die er immer mehr zu spüren bekommt je selbstbestimmter er leben möchte. Dann gibt es Momente, in denen alles stimmt. Er fühlt sich dazugehörig und sein Handicap rückt in den Hintergrund. Doch diese Momente verschwinden. Um wieder einen solchen Moment herzustellen, ist enorm viel Aufwand erforderlich, den er meistens mitbekommt, weil er ihn auch selber betreiben muss. Er hat viele Möglichkeiten innerhalb der Strukturen die gerne „geschützte Räume“ genannt werden. Doch in eben diesen Räumen geht es ihm so, wie ich es zu Beginn beschrieben habe: Er schaut sich um und sieht Menschen. Er schaut genauer hin und sieht Menschen, die ihm vermeintlich ähnlich sind, weil sie sich in einer Institution bewegen, die für sie geschaffen wurde. Für sie - oder für alle anderen, weil Ordnung schaffen das Gefühl der Sicherheit schafft. Menschen werden zugeordnet und so auch mein Bruder. Ihm selbst verschafft es aber nicht nur Sicherheit, sondern vielmehr das Gefühl nicht dazuzugehören zum grossen Ganzen, zur Mehrheit.