Überlegungen zum Verhältnis von dramatischer und postdramatischer Figurengestaltung am Beispiel der Inszenierung «Hoffen auf ein Leben im Irgendwo» von Daniel Kuschewski
Die Welt verändert sich kontinuierlich. Wenn Kunst, und somit auch Theater, eine Form der Auseinandersetzung mit dieser Welt ist, dann muss sich auch diese stetig verändern. Und das tut sie auch. Sehr lange war es für das Theater zentral, psychologisch Figuren zu zeigen, die in einem Konflikt miteinander stehen und dadurch eine Handlung vorangetrieben wird. In einer immer komplexer werdenden Welt, scheint das nicht mehr den Realitätsansprüchen zu genügen. Wie auch schon zuvor kämpfen die Menschen immer wieder gegen Machthaber und Obrigkeiten. In einer Welt, die von Globalisierung und Ökonomisierung geprägt ist, und in einer vermeintlich demokratischen Gesellschaft, versammelt sich diese Macht aber nicht mehr nur in Einzelpersonen, sondern in ganzen Institutionen und undurchschaubaren komplexen Machtstrukturen. Eine höhere Komplexität bringt andere Probleme mit sich, die nicht mehr in einfachen Kommunikationssituationen gelöst werden können. Durch die zunehmende Überforderung durch die Flut an Informationen, die tagtäglich durch das Internet und andere Medien auf uns einprasselt, wird Kommunikation mehr und mehr verändert. Durch diese Veränderungen beeinflusst und auch als Reaktion auf diese veränderte sich das Theater in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr hin zueinem Versuch, dieser Komplexität gerecht zu werden. Bestimmte Veränderungen der Form von Theater, wird bereits seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert unter dem Begriff «PostdramatischesTheater» zusammengefasst. Es handelt sich dabei um Theaterformen, die nicht mehr vorrangig im Dienste des Textes stehen und sich von klassischen Verständnissen von Kategorien wie Figuren und Handlung immer mehr ablösen. Durch neue Darstellungsweisen und Kommunikationsformen wird eine neue Perspektive auf die Zusammenhänge eröffnet und neue Möglichkeiten der Einordnung verhandelt.
Das zeitgenössische Theater kennt eine grosse Fülle an verschiedenen Ausdrucksformen und Spielweisen, die an die Schauspielerinnen und Schauspieler ganz unterschiedliche Anforderungen stellen. Der Theaterwissenschaftler und Dramatiker Jens Roselt verdeutlicht diese Tatsache, indem er einen fiktiven Wochenspielplan eines deutschsprachigen Stadtoder Staatstheaters beschreibt: «Dienstag ein Klassiker von Goethe, Mittwoch etwas von Büchner, Donnerstag ein neues Stück, Freitag ein Shakespeare, Samstag eine Boulevardkomödie, Sonntag ein anderer Shakespeare und Montag ist eigentlich frei, wäre da nicht eine als ‹Performance› bezeichnete Veranstaltung im Parkhaus des Theaters.»
Die Schauspielerinnen und Schauspieler setzen sich also mit Texten aus ganz unterschiedlichen Zeitepochen auseinander, begegnen verschiedenen Regisseurinnen und Regisseuren mit ganz unterschiedlichen Arbeitsweisen und Ästhetiken und sind permanent auf der Suche nach der „richtigen“ Spielweise. Eine der darstellerischen Herausforderungen mit denen Schauspielerinnen und Schauspieler konfrontiert werden, ist unter anderem das Nicht-Schauspielen, wie es möglicherweise in einer Performance von ihnen verlangt werden könnte. In vielen zeitgenössischen Theaterformen ist weniger die Verwandlungskunst der Schauspielerinnen und Schauspieler gefragt, sondern vielmehr ihre Fähigkeiten als Performer, die authentische Präsenz des Darstellers auf der Bühne.
Michael Kirby beschrieb in den achtziger Jahren die Bandbreite zwischen Schauspielen [acting] und Nicht-Schauspielen [not-acting] als ein Kontinuum von Verhaltensweisen, in dem verschiedene Abstufungen möglich seien und erfand damit ein Instrument, das es ermöglichen sollte, darstellerisches Handeln zu beschreiben, das ganz ohne Figur und dramatische Situation auskommt.
„Wie schaffst du das nur, den ganzen Text auswendig zu lernen?“
Das ist wohl die häufigste Frage, die man als Schauspieler gestellt bekommt. Obwohl als Anerkennung oder gar Bewunderung gemeint, gibt es nur eine ganz einfache Antwort. Ich schaffe es, indem ich mich vor und nach den Proben hinsetze und den Text immer und immer wieder lerne. Vermutlich gibt es professionelle Übungen zum Auswendig lernen und jeder hat seine ganz eigenen Methoden, worum es hier aber nicht gehen soll. Am Ende bleibt einem nichts anderes übrig, als seine Zeit zu investieren. Seine Freizeit.
Diese Zeit, meine Zeit, wird nicht zu meiner Arbeitszeit gezählt und ist demnach nicht vergütet. Text lernen ist keine Kunst, Text lernen ist Arbeit und sie gehört zum Beruf des Schauspielers dazu. Aber diese Arbeit wird allgemein als Selbstverständlichkeit und nicht als honorierter Bestandteil des Berufs des Schauspielers gesehen. Dieses kleine Beispiel soll das Thema meiner Masterarbeit einleiten: Eine Bestandsaufnahme
der aktuellen Arbeitsbedingungen eines Schauspielers an einem Stadttheater. Folgende Punkte sollen untersucht werden: Was sind die Missstände im Ensembletheater? Was brauche ich als Schauspieler, um künstlerisch frei arbeiten zu können, welche Gegebenheiten verhindern dies?
Dabei möchte ich das Ensemblenetzwerk vorstellen, welches im Februar 2015 u. a. von Lisa Jopt, Johanna Lucke und Sebastian Rudolph gegründet wurde, mittlerweile als Verein fungiert und sich selbst als „Bewegung, die den Menschen am Theater zu mehr Mündigkeit, Mut, Rückgrat und Inspiration verhelfen will“ beschreibt. Das Ensemblenetzwerk setzt sich aktiv für die Arbeitsbedingungen von Theaterschaffenden
am Stadttheater ein und hat sich in kürzester Zeit als wichtige Arbeitnehmerorganisation neben der bereits vorhanden GDBA (Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger) etabliert.
„ In den staatlichen Theatern werden Dienste entlohnt, welche den herrschenden Ideen, das heisst den Ideen der Herrschenden geleistet werden – aus den Steuergeldern der Beherrschten.“
In der Ausbildung zur Schauspielerin wurde ein Schwerpunkt stets auf die Eigenverantwortlichkeit und die (Co-) Autorenschaft der Spieler gelegt. Wir sollten uns darüber bewusst sein, was auf der Bühne verhandelt wird und welchen Stellenwert ein Thema in unserer Gesellschaft einnimmt. Aktuelle Bezüge wurden aus historischen Theatertexten herausgearbeitet und die Aussage auf ihre Relevanz hin überprüft. Weiterführend wurden wir aufgefordert eigene Texte aus unseren aktuellen Beobachtungen zu verfassen und diese als Künstler auf der Bühne zu performen. Das Theater ist ein politisches Organ, welches von
Steuerzahlern finanziert und von Stadträten beherrscht wird. Es dient zur Meinungsbildung und dem Perspektivenwechsel. Meine Erwartungen als Studentin waren, dass es am Theater Raum für Diskussionen gibt und somit zur positiven Veränderung unserer Gesellschaft beigetragen wird.
Schwerwiegende Inhalte und tiefgründige Auseinandersetzungen mit dem Zeitgeschehen suchte ich am hiesigen Stadttheater jedoch vergeblich. Weder als Schauspielerin, noch als Zuschauerin, erreichte mich die Verantwortung, Stellung zu beziehen und mich intensiv mit einer Thematik auseinanderzusetzen. Stattdessen wurden die Inszenierungen auf ihre Unterhaltsamkeit, Ästhetik oder Stilsicherheit hin bewertet. An Stelle der Forschung am Kern einer Aussage, uferten die Diskussionen auf der Probe oft zu narzisstischen Machtspielen über Geschmacksfragen aus, die das Ensemble immer weiter auseinander trieben. Dabei handelte es sich nur allzu oft um persönliche Empfindungen und Meinungen. Der Zeitdruck, die starken Hierarchien und nicht zuletzt die Selbstzweifel taten ihr übriges um die inhaltliche Frage mehr und mehr in den Hintergrund rücken zu lassen. Ein Konkurrenzkampf um die Anerkennung der Regie entstand zwischen den Schauspielern. Die Regie wiederum kämpfte ihrerseits um Anerkennung des Intendanten und dieser um die Anerkennung der Stadträte und so weiter und so fort.