Ausgangspunkt dieser Arbeit ist das Anliegen, mir klarer darüber zu werden, wie ich ins Handeln komme, beziehungsweise was die Bedingungen dafür sind, dass ich mich als handlungsfähig wahrnehme, um neue Erkenntnisse für die Praxis nutzbar zu machen. Worauf ziele ich mit meinem (künstlerischen) Handeln ab? Wie kann ich in eine Wirksamkeit kommen?
Eine Untersuchung des Handelns drängt sich mir gerade aus kunstspezifischer Perspektive auf, ist Handeln doch ein elementares Grundprinzip von Kunst. Das ist, auf das Theater bezogen, sicherlich kein revolutionär neuer Gedanke. Judith Siegmund, Professorin für philosophische Ästhetik, beschreibt jedoch einen Funktionswandel, der unabhängig von der Kunstform “dazu führt, Handlungen (immer mehr) als wesentlichen Aspekt künstlerischer Arbeit zu beschreiben".
Aber eine Untersuchung von Handlungsfähigkeit drängt sich offensichtlich auch aus einer gesellschaftspolitischen Perspektive auf: “Da ist anscheinend gar nichts mehr dazwischen zwischen ‘wir müssen was machen’ und ‘oh, wir können nichts machen’. Was ist denn dieses Dazwischen? Ist das das jetzt? Wann fängt denn dieses nie wieder an?”, fragt der antifaschistische Podcast "gestresst und rauschig" als Reaktion auf die Correktiv-Recherche zu den menschenverachtenden Vertreibungsplänen und die immer weiter erstarkende Rechte.
Exemplarisch für eine gesellschaftliche Verhandlung von Handlungsfähigkeit ist auch die Prägung des Begriffs der “Klimaohnmacht”. Wie können wir wirksam werden, anstatt zwischen “es muss dringend gehandelt werden” und “ich kann nichts tun” stecken zu bleiben?
Die vorliegende Arbeit vertritt die These, dass Handlungsfähigkeit durch die Konstruktion von strengen Gegensatzpaaren stark eingeschränkt wird, und versucht, diese These zu argumentieren und darüber nachzudenken, welche Auswege es geben könnte. “Was ist denn dieses Dazwischen"?
Das Werk The Silence in der Schaubühne, dem ich zuerst sehr distanziert begegne,
überwältigt mich unerwartet emotional, als der Regisseur Falk Richter die Geschichte
seines Vaters Sterbeprozesses enthüllt. Die Passage ist so wahrhaftig, dass sie mich auf
eigene Erfahrungen und Ängste zurückwirft.
Viele Zuschauer*innen weinten und waren sichtlich erschrocken.
Eine Brutalität befindet sich im Raum, da der Tod unausweichlich scheint und gleichzeitig
existiert Trost, denn am selben Ort zur selben Zeit wird der gleiche Schmerz geteilt.
Als ich zwei Monate später mit Falk Richter und Dimitrij Schaad (Schauspieler des Stückes)
im gleichen Haus auf einer Premierenfeier auf der Tanzfläche stehe, sind all diese
Assoziationen verschwunden.
Wieso empfinde ich jetzt kein Mitgefühl, keine Verbundenheit, ich kenne doch die
Geschichte nun? Allerdings ist meine Verknüpfung zum Thema Tod abhandengekommen.
Diese Emotionen sind dementsprechend weder an die spezifische Geschichte Richters
gekoppelt noch an den Schauspieler, welcher sie vermittelt.
Denn in anderen Kontexten sind die Assoziationen trotz des Wissens um das Schicksal
nicht vorhanden.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage:
Ist es nicht das Wissen um die Sterblichkeit und Verluste, die berührt, sondern macht erst
das Theater diese Themen zugänglich?
Ist das Theater als vergänglicher Raum im besonderen eine Kunstform, die uns so
unmittelbar für den Tod sensibilisiert?
Diese Arbeit ist eine Suche nach dem Motiv der Vergänglichkeit im Theater. Wie wird das
Thema der Sterblichkeit auf der Bühne behandelt und kann sie uns dabei helfen, unsere
eigene Endlichkeit anzunehmen?
Wenn ich überlege, was alle Theatervorstellungen, die mich in meinem Leben begeistert haben,
gemeinsam haben; dann komme ich zu dem Schluss: Sie wirken aktiv folgenden Symptomen von
Individiuen in hochkapitalistischen Gesellschaften auf die eine oder andere Weise entgegen:
Apathie, Erschöpfung, Entfremdung, Egozentrismus, Gleichgültigkeit, Abstumpfung, Sinnverlust,
einem Gefühl von Leere. Großartiges Theater ist für mich ein Ritual bei dem Menschen sich üben
in einer Fähigkeit, die bei den täglichen Bemühungen möglichst zu funktionieren und nicht zu
verzweifeln eher hinderlich ist; - der es aber gesamtgesellschaftlich dringend bedarf: Empathie.
Weshalb brauchen wir mehr Empathie? Der kanadische Arzt, Sucht- und Trauma Experte Dr. Gabor
Maté beleuchtet in seinem Buch „Der Mythos des Normalen”, wie uns unsere modernen,
vermeintlich „normalen” Lebensbedingungen - von der persönlichen Ebene frühkindlicher
Prägungen bis hin zu unseren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Systemen – kollektiv
traumatisieren1, da sie elementare Bedürfnisse der Spezies Mensch missachten.
Diese Bedürfnisse sind nach dem breiten Konsens aus der Psychologie wie folgt: Zugehörigkeit, Verbundenheit, Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben, Kompetenz, Vertrauen in die persönlichen und
sozialen Ressourcen, ein Gefühl von Sinn, Transzendenz.
Ein wichtiges Mittel auf dem Weg zu Heilung einer traumatisierten, bzw. von ihren Bedürfnissen
entfremdeten Gesellschaft, ist für Maté das Mitgefühl. Es geht, genauer gesagt um das Anerkennen
und Nachempfinden der Wunden, die, wie er schreibt, durch den Raubbau an der eigenen und der
kollektiven „menschlichen Seele“ entstanden sind. Empathie - „die Bereitschaft und Fähigkeit, sich
in den Zustand anderer Menschen einzufühlen” - wiederum ist Voraussetzung um Mitgefühl
empfinden zu können.
Im Zuge meines Theaterstudiums an der Zürcher Hochschule der Künste war ich Teilnehmer:in an einer Lehrveranstaltung namens „Perform Yourself“. Es handelte sich um einen Versuchsraum autobiografische Inhalte der Teilnehmer:innen in Soloperformances zu verarbeiten und gegebenenfalls durch autofiktionalen Elemente zu ergänzen. Im Zuge dessen konzipierte und performte ich einen Kabarettabend mittleren Umfangs. Ich habe seither grosses Interesse an der Arbeitsweise für meine eigene künstlerische Praxis und als Rezipient:in.
In der vorliegenden Arbeit spreche ich über die eigenen Auseinandersetzungen mit dem Thema und der Praxis. Ich erweitere den Diskurs um die Komponente einer Recherche, um einen weitläufigeren Blick zu ermöglichen. Um das Thema niederschwellig zugänglich zu halten, entscheide ich mich in dieser Abschlussarbeit eine einfache und inklusive Sprache zu verwenden. Formulierungen aus der „Ich-Perspektive“ oder „wir-Perspektive“ erheben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Ich berichte aus meinem eigenen Erfahrungspool, aus dem Gelerntes oder Gesehenes nicht stets auf eine einzige Quelle zurückgeführt werden kann. Die Grenzen der empirisch gesammelten Auseinandersetzungen und Arbeitsprozesse verschmelzen oder widersprechen möglicherweise Thesen, Theorien oder Erfahrungen anderer.
Zu Beginn der vorliegenden Arbeit machen wir einen Streifzug durch den literarischen Ursprung des Begriffs der Autofiktion und stellen diesen der Autobiografie gegenüber. Anschliessend widmen wir uns der Vertrauensfrage und dem Umfeld in dem autobiografische und -fiktionale Inhalte fruchtbar sein können. Ausserdem lernen wir die Ambivalenz der Potenziale imaginierter und praktizierter Wahrheiten kennen. Schliesslich werden anhand einzelner Beispiele mögliche aufkommende Probleme oder Potenziale im Zuge der Arbeit mit Autofiktion und -biografie aufgezeigt. Schliesslich erwähne ich einige Erfahrungen meiner eigenen künstlerischen Praxis. Am Ende der Arbeit versteht sich das Verzeichnis der literarischen wie performativen Quellen als ein Überblick meiner weitläufigen Auseinandersetzung mit dem Thema und dient als Einladung zur Gesprächsgrundlage sowie mögliche Inspiration.