Im vergangenen Herbst, nach einer Theaterprobe, spazierte ich entlang der Sihl und
entdeckte einen Graureiher, auf einem Stein ruhend und in die Ferne blickend. In
diesem Moment wurde mir klar, dass meine bereits erarbeitete Figur erstaunliche Ähnlichkeit mit diesem
Vogel hatte. Seine eleganten Bewegungen, die Art und Weise wie er seinen langen
Hals und den Kopf ruckartig und plötzlich drehte, wie er stolz und bedächtig durch
das Wasser schritt und dabei mit scharfem Blick die Umgebung inspizierte. All das
spiegelte die Charakteristik meiner Figur wider. Ich hatte mich zuvor schon zwei
Wochen lang intensiv mit der Körperlichkeit meiner Figur beschäftigt, jedoch fehlte
mir der richtige Zugang. Ich war gefangen in eigenen Mustern und mir mangelte es
an Inspiration. Angeregt vom Anblick dieses Reihers begann ich, auf eine neue Art
und Weise zu spielen und fühlte mich befreit.
Die Schauspielmethode Animal Work wird von Schauspielenden in der
Rollenvorbereitung, sowie zum Teil auch während der Vorstellung als Technik
genutzt, um sich von den eigenen gewöhnlichen Verhaltensmustern zu lösen und
eine tiefere Verbindung zu ihren Charakteren herzustellen.
Ziel meiner Arbeit ist es, mich intensiver mit der Technik der «Tierarbeit»
auseinanderzusetzten und konkrete Probeansätze zu finden, die es mir ermöglichen
Figuren vielseitig darzustellen. Zusätzlich möchte ich auf den «Intellekt» und das
«Ego» bei Spieler:innen eingehen und deren Auswirkung auf das Spiel untersuchen.
Darüber hinaus will ich die «Tierarbeit» mit ihrem körperlichen Zugang im Vergleich
zur Erarbeitung der Rolle über den «Intellekt» und dessen psychologischen Zugang
vergleichen.
Mit folgenden Fragen möchte ich mich befassen:
• Inwiefern kann die Anwendung von Tierarbeit die Figurengestaltung
unterstützen?
• Welche Aspekte der Tierarbeit stehen im Kontrast zur Arbeit über den Intellekt
& das Ego?
• Besitzt die Praxis Animal Work auch im zeitgenössischen Theater Relevanz,
und wenn ja, welche Bedeutung kommt ihr zu?
Ausgangspunkt dieser Arbeit ist das Anliegen, mir klarer darüber zu werden, wie ich ins Handeln komme, beziehungsweise was die Bedingungen dafür sind, dass ich mich als handlungsfähig wahrnehme, um neue Erkenntnisse für die Praxis nutzbar zu machen. Worauf ziele ich mit meinem (künstlerischen) Handeln ab? Wie kann ich in eine Wirksamkeit kommen?
Eine Untersuchung des Handelns drängt sich mir gerade aus kunstspezifischer Perspektive auf, ist Handeln doch ein elementares Grundprinzip von Kunst. Das ist, auf das Theater bezogen, sicherlich kein revolutionär neuer Gedanke. Judith Siegmund, Professorin für philosophische Ästhetik, beschreibt jedoch einen Funktionswandel, der unabhängig von der Kunstform “dazu führt, Handlungen (immer mehr) als wesentlichen Aspekt künstlerischer Arbeit zu beschreiben".
Aber eine Untersuchung von Handlungsfähigkeit drängt sich offensichtlich auch aus einer gesellschaftspolitischen Perspektive auf: “Da ist anscheinend gar nichts mehr dazwischen zwischen ‘wir müssen was machen’ und ‘oh, wir können nichts machen’. Was ist denn dieses Dazwischen? Ist das das jetzt? Wann fängt denn dieses nie wieder an?”, fragt der antifaschistische Podcast "gestresst und rauschig" als Reaktion auf die Correktiv-Recherche zu den menschenverachtenden Vertreibungsplänen und die immer weiter erstarkende Rechte.
Exemplarisch für eine gesellschaftliche Verhandlung von Handlungsfähigkeit ist auch die Prägung des Begriffs der “Klimaohnmacht”. Wie können wir wirksam werden, anstatt zwischen “es muss dringend gehandelt werden” und “ich kann nichts tun” stecken zu bleiben?
Die vorliegende Arbeit vertritt die These, dass Handlungsfähigkeit durch die Konstruktion von strengen Gegensatzpaaren stark eingeschränkt wird, und versucht, diese These zu argumentieren und darüber nachzudenken, welche Auswege es geben könnte. “Was ist denn dieses Dazwischen"?
Diese Arbeit befasst sich mit dem Thema der Stereotypen im Theater. Welche möglichen
Ansätze gibt es, um Darstellungen von Stereotypen nicht zu reproduzieren? Und wie wirken
sich stereotypisierte Rollenvorstellungen auf mein Spiel aus? In unserer heutigen
Gesellschaft gibt es häufig den Anspruch Stereotypen aufzubrechen und nicht an einer
heteronormativen Sichtweise hängen zu bleiben, dies geschieht im gegenwärtigen Theater
genauso wie in der Gesellschaft.
Im Theater dreht sich der Diskurs hauptsächlich um die Darstellung und Repräsentation von
Figurenklischés. Darunter fallen genauso Geschlechts und Gender fragen, sowie die, welche
Körperbilder, Körperformen, sexuellen Neigungen etc. auf der Bühne repräsentiert werden.
Diese Debatten betrifft natürlich auch die Frage, welche Menschen welche Positionen am
Theater besetzen.
Ich befasse mich in dieser Arbeit aber hauptsächlich mit der Frage, wie sich der Versuch
Stereotypen im Theater aufzubrechen auf meine Handlung und Spielweise als Schauspieler
auswirkt. Auch wird nicht in erster Linie entscheidend sein, wie mich verschiedene Ansätze
in der Rolle beeinflussen, sondern wie mich die möglichen Ansätze als Schauspieler und
somit erst dann im Spiel beeinflussen. Wie sie für mich produktiv werden können.
Die Darstellung von Stereotypen im Theater ist eine komplexe Thematik, die weitreichende
Auswirkungen auf das Schauspiel hat. Diese Arbeit untersucht, inwieweit der Versuch,
Stereotypen im Theater aufzubrechen, die Darstellung im Schauspiel beeinflusst,
insbesondere aus der Perspektive des Schauspielers. Zentral ist die Frage, welche
Strategien dabei sind und wie sie sich auf die Darstellung auswirken.
Das Gedicht «Anders» von Ilma Rakusa war Ausgangspunkt der Recherche zu meiner Performance «Aus
Versehen». Im Schauspielstudium wurde mir immer wieder eine unbequeme Wahrheit
vorgehalten, nämlich, dass ich als asiatisch gelesener Körper auf der Bühne stehe. Wenn ich
beispielsweise eine Teekanne oder Gießkanne auf der Bühne halte, dann wird der Zuschauende
mit seinen eigenen Vorurteilen konfrontiert, er wird möglicherweise an Asien oder an eine
Teezeremonie denken. Mein Aussehen und eine Teekanne ergeben ein anderes Bild als
beispielsweise ein weißer, männlich gelesener Körper. Ich kann mein Bild als Spieler*in auf
der Bühne nur bedingt beeinflussen, werde immer auch unter dem Gesichtspunkt kultureller
Codes und Zuschreibungen angeschaut. Wie kann ich diesen kulturell vorgeprägten Blick in
einer weißen deutschsprachigen Mehrheitsgesellschaft verrücken oder beeinflussen? Und was
mache ich als Spieler*in mit diesem Wissen? Schließlich kann ich mein Aussehen, das auf eine
vermeintlich andersartige Herkunft hinweist, nicht ändern. Ähnlich wie Ilma Rakusa wollte ich
mich zum Anderssein positionieren und eine vergleichbar souveräne Antwort auf der Bühne
finden. Die Frage lautete: Inwiefern lässt sich diese Auseinandersetzung mit dem Selbst auf
eine Bühnensituation übersetzen?
Fragen zur Gegenwärtigkeit, Ko-Präsenz und Live-ness im Bezug zu Live-Kamera
auf der Bühne, werde ich in dieser Arbeit versuchen zu beantworten und zu
diskutieren. Zu Beginn meiner Arbeit recherchierte ich Definitionen für die Begriffe
Gegenwart, Ko-Präsenz und Live-ness. Ich beschloss, jemanden zu interviewen, der
mit diesem Werkzeug in der Branche arbeitet, und konnte ein Interview mit Robin
Niedecker führen, einem Videokünstler und Filmemacher aus Basel. Dieses
Interview habe ich anschliessend transkribiert und als Grundlage für die Diskussion
dieser Arbeit verwendet.
Ich habe nicht die Absicht, alle Antworten zu finden, sondern mich ihnen anzunähern
und darüber nachzudenken, wie meine eigene Arbeit als Künstlerin und
Schauspielerin dadurch bereichert werden könnte.
Ich war von der Faszination für dieses immer häufiger eingesetzte Medium
angetrieben: Live-Kamera auf der Bühne. Wie erweitert und verändert dieses
Medium das Theater?
Wenn Schauspieler auf die Bühne gehen und Schriftsteller neue Werke schreiben, kann man die Angst in ihren Augen sehen. Denn sie wissen wie kein anderer, wie man die Wahrheit sagt. Mit Worten, mit Farbe, mit Augen.
Wie soll ein Künstler mit dem Krieg umgehen? Wie findet man die Kraft, weiter zu schaffen und der Welt einen Teil von sich zu geben, sich zu bewegen und zu bewegen. Meine Gedanken zusammenzufassen und nicht die Gelegenheit zu verlieren, der Welt meine Meinung mitzuteilen.
Unterschiedliche Meinungen und Sichtweisen zu diskutieren und zu äußern und die Menschen in einem Zustand des Nationalbewusstseins zu halten, d.h. der Gesellschaft die Bedeutung der Kenntnis ihrer Sprache, Literatur und deren Förderung näher zu bringen. Die Besonderheiten und Charakteristika der ukrainischen Literatur zu vermitteln und zu zeigen, wie sie sich im Laufe der Jahrhunderte verändert haben. Die Kunst spielt auch eine wichtige Rolle bei der Erziehung der jungen Generation in Kriegszeiten. Und wenn ein Künstler sich im Ausland befindet, über die Grenzen des Landes hinausgeht, wird er zu einem Boten für andere Nationen, der die Möglichkeit hat, die Geschichte unserer Generation, der Generation des 21. Jahrhunderts, zu erzählen, die erfahren hat, was Krieg ist.. Darüber zu berichten, wovor viele Menschen einfach die Augen verschließen.
Die Frage der Mobilisierung stellt sich mit dem Ausbruch des Krieges nicht nur in den Reihen der Militärs, sondern auch in den Reihen der Künstler. Sie manifestiert sich in der Aufzeichnung einer neuen Realität, einem "Autoporträt der Gegenwart" für neue Generationen und die Welt. Sie kann sogar die militärische Hilfe fürs Land beeinflussen. Es hilft außerdem, die eigene Kultur in anderen Kulturen zu machen, in dem die Stimmen der Menschen, die die Besatzung überlebt haben, gehört werden. Künstler halten ihre emotionale und moralische Front aufrecht, erheben den nationalen Geist und den Glauben. In meiner Arbeit geht es um Künstler, die seit Jahrhunderten außerhalb der Schützengräben für ihre Literatur und ihr künstlerisches Erbe kämpfen, um die "künstlerische Mobilisierung".
Wir alle kennen es. Wollen es. Meinen, es zu brauchen. Anerkennung, Lob,
Bewunderung. Bloß nicht austauschbar oder mittelmäßig sein. Und dennoch scheint
darüber wenig gesprochen zu werden. Es mutet an wie eine stumme
Unzulänglichkeit. Ein “niederes” Gefühl, das zwar zutiefst menschlich ist, aber nicht
nach außen getragen werden soll.
Diese Arbeit ist eine Auseinandersetzung mit dem Streben nach „Besonderheit“, der
gesellschaftlichen Produktion von Einzigartigkeit, und der Frage, wie und auf welche
Weise sich dies im Berufsfeld Schauspiel niederschlägt. Welche historischen,
kulturellen und ökonomischen Implikationen hat es? Darüber nehme ich den
hoffentlich nicht allzu kulturpessimistischen Weg über einige Gesellschaftstheorien
zur Funktion des Wettbewerbs und Narzissmus als gesellschaftlicher Funktionslogik.
Um nachzuvollziehen, woher dieser, wie Kae Tempest es formuliert „zerstörerischer
Wunsch nach Anerkennung“ rührt. Um festzustellen, dass das nicht nur eine
individuelle Charaktereigenschaft, sondern eine alles durchdringende Funktionslogik
ist, die mich zwar in meinem alltäglichen Handeln beeinflusst und zeitweise belastet,
die aber nicht gegeben und somit auch verschiebbar ist.
Nicht zuletzt möchte ich mich mit der Frage nach alternativen Räumen
auseinandersetzen, in denen künstlerische oder kreative Praktiken fernab oder
zumindest entgegen dem Dispositiv der Einzigartigkeit passieren können. Welche
Praktiken, Räume und Modi wirken der Singularität, die dem Wunsch nach
Anerkennung innewohnt, entgegen?
Wenn ich überlege, was alle Theatervorstellungen, die mich in meinem Leben begeistert haben,
gemeinsam haben; dann komme ich zu dem Schluss: Sie wirken aktiv folgenden Symptomen von
Individiuen in hochkapitalistischen Gesellschaften auf die eine oder andere Weise entgegen:
Apathie, Erschöpfung, Entfremdung, Egozentrismus, Gleichgültigkeit, Abstumpfung, Sinnverlust,
einem Gefühl von Leere. Großartiges Theater ist für mich ein Ritual bei dem Menschen sich üben
in einer Fähigkeit, die bei den täglichen Bemühungen möglichst zu funktionieren und nicht zu
verzweifeln eher hinderlich ist; - der es aber gesamtgesellschaftlich dringend bedarf: Empathie.
Weshalb brauchen wir mehr Empathie? Der kanadische Arzt, Sucht- und Trauma Experte Dr. Gabor
Maté beleuchtet in seinem Buch „Der Mythos des Normalen”, wie uns unsere modernen,
vermeintlich „normalen” Lebensbedingungen - von der persönlichen Ebene frühkindlicher
Prägungen bis hin zu unseren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Systemen – kollektiv
traumatisieren1, da sie elementare Bedürfnisse der Spezies Mensch missachten.
Diese Bedürfnisse sind nach dem breiten Konsens aus der Psychologie wie folgt: Zugehörigkeit, Verbundenheit, Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben, Kompetenz, Vertrauen in die persönlichen und
sozialen Ressourcen, ein Gefühl von Sinn, Transzendenz.
Ein wichtiges Mittel auf dem Weg zu Heilung einer traumatisierten, bzw. von ihren Bedürfnissen
entfremdeten Gesellschaft, ist für Maté das Mitgefühl. Es geht, genauer gesagt um das Anerkennen
und Nachempfinden der Wunden, die, wie er schreibt, durch den Raubbau an der eigenen und der
kollektiven „menschlichen Seele“ entstanden sind. Empathie - „die Bereitschaft und Fähigkeit, sich
in den Zustand anderer Menschen einzufühlen” - wiederum ist Voraussetzung um Mitgefühl
empfinden zu können.
Während meines Schauspielstudiums an der ZHdK habe ich viel das Schauspielhaus Zürich
unter der Intendanz (Nicolas Steman & Benjamin Blomberg) und das Theater Neumarkt (Julia
Reichert, Hayat Erdoğan, Tine Milz) besucht und dort eine ganz andere Theaterästhetik
kennengelernt, als ich sie von den großen Theatern her kannte, die ich in meiner Heimatstadt
Wien besuchte. Dort bin ich zum ersten Mal Spielstilen begegnet, wo auf der Bühne von den
Spielenden mit ihrem eigenen Namen gesprochen wurde. Sie stellten sich als sie selbst vor
und traten oft sogar als Gastgeber des Abends auf. Das löste in mir eine große Begeisterung
aus und war für mich ein neues Theatererlebnis, das bei mir sehr schnell eine Verbindung
auslöste und mich an diesen Theaterabenden in den Bann zog. Das Theater spricht mich von
den Themen her oft sehr an und wirkt auf mich sehr durchdacht und ästhetisch
durchkonzipiert. Aber mit der Zeit und mit der Anzahl der Stücke, die ich in diesen Theatern
gesehen hatte, kristallisierte sich für mich ein Muster heraus, wie sich diese Körper auf der
Bühne bewegten, und es stellte sich für mich die Frage: Wie fühlten sich diese Körper auf der
Bühne? War dieser Zustand einschränkend? Und was erlebten sie, wenn sie so auf der Bühne
standen? Da die meisten von ihnen wie ich an einer Schauspielschule waren und ein breites
Spektrum an Spielmöglichkeiten, Facetten und Werkzeugen studiert hatten. War das eine
andere Form, aus der sie schöpfen konnten?
Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Spielzustand des Rausches und der Beziehung, die
Schauspieler*innen in ihrer Arbeit als Bühnenkünstler*innen zu diesem Zustand haben und
wird untersuchen, ob es im postdramatischen Theater eine neue Beziehung zu diesem Zustand
gibt und ob in einer “postdramatischen Spielweise” das Gefühl des Spielrausches verloren
geht.
Im Zuge meines Theaterstudiums an der Zürcher Hochschule der Künste war ich Teilnehmer:in an einer Lehrveranstaltung namens „Perform Yourself“. Es handelte sich um einen Versuchsraum autobiografische Inhalte der Teilnehmer:innen in Soloperformances zu verarbeiten und gegebenenfalls durch autofiktionalen Elemente zu ergänzen. Im Zuge dessen konzipierte und performte ich einen Kabarettabend mittleren Umfangs. Ich habe seither grosses Interesse an der Arbeitsweise für meine eigene künstlerische Praxis und als Rezipient:in.
In der vorliegenden Arbeit spreche ich über die eigenen Auseinandersetzungen mit dem Thema und der Praxis. Ich erweitere den Diskurs um die Komponente einer Recherche, um einen weitläufigeren Blick zu ermöglichen. Um das Thema niederschwellig zugänglich zu halten, entscheide ich mich in dieser Abschlussarbeit eine einfache und inklusive Sprache zu verwenden. Formulierungen aus der „Ich-Perspektive“ oder „wir-Perspektive“ erheben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Ich berichte aus meinem eigenen Erfahrungspool, aus dem Gelerntes oder Gesehenes nicht stets auf eine einzige Quelle zurückgeführt werden kann. Die Grenzen der empirisch gesammelten Auseinandersetzungen und Arbeitsprozesse verschmelzen oder widersprechen möglicherweise Thesen, Theorien oder Erfahrungen anderer.
Zu Beginn der vorliegenden Arbeit machen wir einen Streifzug durch den literarischen Ursprung des Begriffs der Autofiktion und stellen diesen der Autobiografie gegenüber. Anschliessend widmen wir uns der Vertrauensfrage und dem Umfeld in dem autobiografische und -fiktionale Inhalte fruchtbar sein können. Ausserdem lernen wir die Ambivalenz der Potenziale imaginierter und praktizierter Wahrheiten kennen. Schliesslich werden anhand einzelner Beispiele mögliche aufkommende Probleme oder Potenziale im Zuge der Arbeit mit Autofiktion und -biografie aufgezeigt. Schliesslich erwähne ich einige Erfahrungen meiner eigenen künstlerischen Praxis. Am Ende der Arbeit versteht sich das Verzeichnis der literarischen wie performativen Quellen als ein Überblick meiner weitläufigen Auseinandersetzung mit dem Thema und dient als Einladung zur Gesprächsgrundlage sowie mögliche Inspiration.
Ich kam müde in London an. Ich hatte mein Fahrrad in einem großen Karton und meinen Reiserucksack, in dem ich über Nacht alle Sachen reingeworfen habe, die ich für einen 5 Monate langen Auslandsaufenthalt für wichtig gehalten hatte. Am Vorabend hatte ich Dernière erlebt von meinem selbstgeschriebenen und inszenierten 60-minütigen Kindertheaterstück mit einem 9-köpfigen Ensemble, in dem ich zusätzlich die Hauptrolle übernahm. Ich hatte noch kein Zimmer und schlief die ersten zwei Nächte bei einem Bekannten auf der Couch. Zwei Jahre Schauspielstudium lagen hinter mir, in dem ich unglaublich viel gelernt hatte, in dem ich aber auch an meine persönlichen Grenzen gekommen war. In dieser Zeit sind meine Kindheitswunden wieder aufgegangen, die ich dachte, hinter mir gelassen zu haben. So lag ich teilweise auf dem Nachhauseweg auf dem kalten Boden und wollte nicht mehr aufstehen. Fremde Menschen, Freund:innen über Telefon, Kommiliton:innen haben mich aufgelesen und nachhause gebracht. London erschien mir als Flucht und darin als eine Chance aus meinem eigenen Hamsterrad zu entkommen. Nach ein paar Wochen in London entstand das Gedicht „Destruction“, als wäre es schon immer in mir drin gewesen, als hätte es lediglich Form angenommen. Mit diesem Gedicht bin ich durch London getourt. Ich habe es an unterschiedlichsten Orten vor unterschiedlichsten Menschen performt und jedes Mal hatte ich danach eine Schar von Leuten um mich rum, die berührt und dankbar waren, dass ich es geteilt hatte. Die Reise mit dem Gedicht war nach meinen Begegnungen in London nicht vorbei - es ging danach weiter. In mir, in den Menschen, in Freundschaften, in Gesprächen. In dieser Arbeit möchte ich die Entstehung, Umsetzung und Wirkung meiner autobiografischen Solo-Performance mit „Destruction“ untersuchen unter der Leitfrage: Wie kann die Autobiografie in der Performancekunst als Mittel genutzt werden, um kommunikative Räume zu eröffnen?
Ich glaube, dass Scham jeder Mensch ganz eigen für sich fühlt. Ihre Gründe aber können
Menschen teilen. Scham wurzelt nicht im Individuum, sondern in gesellschaftlichen
Normen. So signalisiert Scham sehr oft eine Diskriminierung.
Ich habe für diese Arbeit keine anderen Menschen befragt, sondern schreibe sie aus meiner Erfahrung mit der Scham
auf der Bühne. Gesellschaftliche Gründe für Scham werde ich hier nicht ausführen, weil
sie den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden. Ich werde in dieser Arbeit die Scham nicht
aus einem psychologischen oder soziologischen Blick erörtern.
Ich möchte in dieser Arbeit
beschreiben, wie ich, als angeschaute Person (nicht als zuschauende) die Bühne an sich als
ein Ort der Scham begreife. Dabei werde ich von einer “Grundsituation der Bühne“
ausgehen, die nicht die Realität abbildet. Es gibt nicht “das Publikum“, “die Spielenden“
oder “die Scham“. Jedes Publikum ist anders und jede Person darin auch. Jede Situation ist
in jedem Moment anders! Wenn ich von einer Bühne bzw. Bühnensituation schreibe,
konstruiere ich ein Modell, das nicht die Realität abbildet. Dieses Modell kann aber mir
und vielleicht auch euch Lesenden helfen, über die Scham auf der Bühne zu sprechen und
sie als Teil von dieser zu verstehen.
Zuletzt möchte ich die Bühne als einen Ort der Lust beschreiben, als einen Kink den ich
im Blick der anderen finde. Ich möchte festhalten wie wir auf der Bühne in der Scham
Gefahr und Lust erleben.