Das Gedicht «Anders» von Ilma Rakusa war Ausgangspunkt der Recherche zu meiner Performance «Aus
Versehen». Im Schauspielstudium wurde mir immer wieder eine unbequeme Wahrheit
vorgehalten, nämlich, dass ich als asiatisch gelesener Körper auf der Bühne stehe. Wenn ich
beispielsweise eine Teekanne oder Gießkanne auf der Bühne halte, dann wird der Zuschauende
mit seinen eigenen Vorurteilen konfrontiert, er wird möglicherweise an Asien oder an eine
Teezeremonie denken. Mein Aussehen und eine Teekanne ergeben ein anderes Bild als
beispielsweise ein weißer, männlich gelesener Körper. Ich kann mein Bild als Spieler*in auf
der Bühne nur bedingt beeinflussen, werde immer auch unter dem Gesichtspunkt kultureller
Codes und Zuschreibungen angeschaut. Wie kann ich diesen kulturell vorgeprägten Blick in
einer weißen deutschsprachigen Mehrheitsgesellschaft verrücken oder beeinflussen? Und was
mache ich als Spieler*in mit diesem Wissen? Schließlich kann ich mein Aussehen, das auf eine
vermeintlich andersartige Herkunft hinweist, nicht ändern. Ähnlich wie Ilma Rakusa wollte ich
mich zum Anderssein positionieren und eine vergleichbar souveräne Antwort auf der Bühne
finden. Die Frage lautete: Inwiefern lässt sich diese Auseinandersetzung mit dem Selbst auf
eine Bühnensituation übersetzen?
Das Werk The Silence in der Schaubühne, dem ich zuerst sehr distanziert begegne,
überwältigt mich unerwartet emotional, als der Regisseur Falk Richter die Geschichte
seines Vaters Sterbeprozesses enthüllt. Die Passage ist so wahrhaftig, dass sie mich auf
eigene Erfahrungen und Ängste zurückwirft.
Viele Zuschauer*innen weinten und waren sichtlich erschrocken.
Eine Brutalität befindet sich im Raum, da der Tod unausweichlich scheint und gleichzeitig
existiert Trost, denn am selben Ort zur selben Zeit wird der gleiche Schmerz geteilt.
Als ich zwei Monate später mit Falk Richter und Dimitrij Schaad (Schauspieler des Stückes)
im gleichen Haus auf einer Premierenfeier auf der Tanzfläche stehe, sind all diese
Assoziationen verschwunden.
Wieso empfinde ich jetzt kein Mitgefühl, keine Verbundenheit, ich kenne doch die
Geschichte nun? Allerdings ist meine Verknüpfung zum Thema Tod abhandengekommen.
Diese Emotionen sind dementsprechend weder an die spezifische Geschichte Richters
gekoppelt noch an den Schauspieler, welcher sie vermittelt.
Denn in anderen Kontexten sind die Assoziationen trotz des Wissens um das Schicksal
nicht vorhanden.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage:
Ist es nicht das Wissen um die Sterblichkeit und Verluste, die berührt, sondern macht erst
das Theater diese Themen zugänglich?
Ist das Theater als vergänglicher Raum im besonderen eine Kunstform, die uns so
unmittelbar für den Tod sensibilisiert?
Diese Arbeit ist eine Suche nach dem Motiv der Vergänglichkeit im Theater. Wie wird das
Thema der Sterblichkeit auf der Bühne behandelt und kann sie uns dabei helfen, unsere
eigene Endlichkeit anzunehmen?
Die vorliegende Arbeit bildet den theoretischen Teil meiner Beschäftigung mit dem
Thema des Klauens in der Kunst, speziell im Schauspiel. Die Thematik dieser
theoretischen Arbeit entspringt meinem Interesse an der Auseinandersetzung mit
den Grenzen des Eigentums: Was ist Eigentum, wo beginnt es? Was sind die
philosophischen Ideen dazu? Was unterscheidet das materielle vom immateriellen
Eigentum? Deshalb liegt der Schwerpunkt auf Recherchearbeiten zu
rechtsphilosophischen Hintergründen und historischer Entwicklung von
Urheberrechten, wohingegen ich mich in der praktischen Arbeit mit dem Gegenpart,
nämlich dem Aneignen von fremden schauspielerischen Werken beschäftigt habe.
Außerdem möchte ich mich im letzten Teil dieser Arbeit mit der Frage
auseinandersetzen, die sich aus dem Zusammenspiel der theoretischen und
praktischen Arbeiten ergibt: Bis zu welchem Punkt ist es für mich moralisch in
Ordnung, mir fremdes geistiges Eigentum anzueignen? Diese Frage ist für mich
zukunftsweisend für meine eigene künstlerische Praxis.
Ich kam müde in London an. Ich hatte mein Fahrrad in einem großen Karton und meinen Reiserucksack, in dem ich über Nacht alle Sachen reingeworfen habe, die ich für einen 5 Monate langen Auslandsaufenthalt für wichtig gehalten hatte. Am Vorabend hatte ich Dernière erlebt von meinem selbstgeschriebenen und inszenierten 60-minütigen Kindertheaterstück mit einem 9-köpfigen Ensemble, in dem ich zusätzlich die Hauptrolle übernahm. Ich hatte noch kein Zimmer und schlief die ersten zwei Nächte bei einem Bekannten auf der Couch. Zwei Jahre Schauspielstudium lagen hinter mir, in dem ich unglaublich viel gelernt hatte, in dem ich aber auch an meine persönlichen Grenzen gekommen war. In dieser Zeit sind meine Kindheitswunden wieder aufgegangen, die ich dachte, hinter mir gelassen zu haben. So lag ich teilweise auf dem Nachhauseweg auf dem kalten Boden und wollte nicht mehr aufstehen. Fremde Menschen, Freund:innen über Telefon, Kommiliton:innen haben mich aufgelesen und nachhause gebracht. London erschien mir als Flucht und darin als eine Chance aus meinem eigenen Hamsterrad zu entkommen. Nach ein paar Wochen in London entstand das Gedicht „Destruction“, als wäre es schon immer in mir drin gewesen, als hätte es lediglich Form angenommen. Mit diesem Gedicht bin ich durch London getourt. Ich habe es an unterschiedlichsten Orten vor unterschiedlichsten Menschen performt und jedes Mal hatte ich danach eine Schar von Leuten um mich rum, die berührt und dankbar waren, dass ich es geteilt hatte. Die Reise mit dem Gedicht war nach meinen Begegnungen in London nicht vorbei - es ging danach weiter. In mir, in den Menschen, in Freundschaften, in Gesprächen. In dieser Arbeit möchte ich die Entstehung, Umsetzung und Wirkung meiner autobiografischen Solo-Performance mit „Destruction“ untersuchen unter der Leitfrage: Wie kann die Autobiografie in der Performancekunst als Mittel genutzt werden, um kommunikative Räume zu eröffnen?
Während meines Schauspielstudiums an der ZHdK habe ich viel das Schauspielhaus Zürich
unter der Intendanz (Nicolas Steman & Benjamin Blomberg) und das Theater Neumarkt (Julia
Reichert, Hayat Erdoğan, Tine Milz) besucht und dort eine ganz andere Theaterästhetik
kennengelernt, als ich sie von den großen Theatern her kannte, die ich in meiner Heimatstadt
Wien besuchte. Dort bin ich zum ersten Mal Spielstilen begegnet, wo auf der Bühne von den
Spielenden mit ihrem eigenen Namen gesprochen wurde. Sie stellten sich als sie selbst vor
und traten oft sogar als Gastgeber des Abends auf. Das löste in mir eine große Begeisterung
aus und war für mich ein neues Theatererlebnis, das bei mir sehr schnell eine Verbindung
auslöste und mich an diesen Theaterabenden in den Bann zog. Das Theater spricht mich von
den Themen her oft sehr an und wirkt auf mich sehr durchdacht und ästhetisch
durchkonzipiert. Aber mit der Zeit und mit der Anzahl der Stücke, die ich in diesen Theatern
gesehen hatte, kristallisierte sich für mich ein Muster heraus, wie sich diese Körper auf der
Bühne bewegten, und es stellte sich für mich die Frage: Wie fühlten sich diese Körper auf der
Bühne? War dieser Zustand einschränkend? Und was erlebten sie, wenn sie so auf der Bühne
standen? Da die meisten von ihnen wie ich an einer Schauspielschule waren und ein breites
Spektrum an Spielmöglichkeiten, Facetten und Werkzeugen studiert hatten. War das eine
andere Form, aus der sie schöpfen konnten?
Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Spielzustand des Rausches und der Beziehung, die
Schauspieler*innen in ihrer Arbeit als Bühnenkünstler*innen zu diesem Zustand haben und
wird untersuchen, ob es im postdramatischen Theater eine neue Beziehung zu diesem Zustand
gibt und ob in einer “postdramatischen Spielweise” das Gefühl des Spielrausches verloren
geht.
Fragen zur Gegenwärtigkeit, Ko-Präsenz und Live-ness im Bezug zu Live-Kamera
auf der Bühne, werde ich in dieser Arbeit versuchen zu beantworten und zu
diskutieren. Zu Beginn meiner Arbeit recherchierte ich Definitionen für die Begriffe
Gegenwart, Ko-Präsenz und Live-ness. Ich beschloss, jemanden zu interviewen, der
mit diesem Werkzeug in der Branche arbeitet, und konnte ein Interview mit Robin
Niedecker führen, einem Videokünstler und Filmemacher aus Basel. Dieses
Interview habe ich anschliessend transkribiert und als Grundlage für die Diskussion
dieser Arbeit verwendet.
Ich habe nicht die Absicht, alle Antworten zu finden, sondern mich ihnen anzunähern
und darüber nachzudenken, wie meine eigene Arbeit als Künstlerin und
Schauspielerin dadurch bereichert werden könnte.
Ich war von der Faszination für dieses immer häufiger eingesetzte Medium
angetrieben: Live-Kamera auf der Bühne. Wie erweitert und verändert dieses
Medium das Theater?
Wenn Schauspieler auf die Bühne gehen und Schriftsteller neue Werke schreiben, kann man die Angst in ihren Augen sehen. Denn sie wissen wie kein anderer, wie man die Wahrheit sagt. Mit Worten, mit Farbe, mit Augen.
Wie soll ein Künstler mit dem Krieg umgehen? Wie findet man die Kraft, weiter zu schaffen und der Welt einen Teil von sich zu geben, sich zu bewegen und zu bewegen. Meine Gedanken zusammenzufassen und nicht die Gelegenheit zu verlieren, der Welt meine Meinung mitzuteilen.
Unterschiedliche Meinungen und Sichtweisen zu diskutieren und zu äußern und die Menschen in einem Zustand des Nationalbewusstseins zu halten, d.h. der Gesellschaft die Bedeutung der Kenntnis ihrer Sprache, Literatur und deren Förderung näher zu bringen. Die Besonderheiten und Charakteristika der ukrainischen Literatur zu vermitteln und zu zeigen, wie sie sich im Laufe der Jahrhunderte verändert haben. Die Kunst spielt auch eine wichtige Rolle bei der Erziehung der jungen Generation in Kriegszeiten. Und wenn ein Künstler sich im Ausland befindet, über die Grenzen des Landes hinausgeht, wird er zu einem Boten für andere Nationen, der die Möglichkeit hat, die Geschichte unserer Generation, der Generation des 21. Jahrhunderts, zu erzählen, die erfahren hat, was Krieg ist.. Darüber zu berichten, wovor viele Menschen einfach die Augen verschließen.
Die Frage der Mobilisierung stellt sich mit dem Ausbruch des Krieges nicht nur in den Reihen der Militärs, sondern auch in den Reihen der Künstler. Sie manifestiert sich in der Aufzeichnung einer neuen Realität, einem "Autoporträt der Gegenwart" für neue Generationen und die Welt. Sie kann sogar die militärische Hilfe fürs Land beeinflussen. Es hilft außerdem, die eigene Kultur in anderen Kulturen zu machen, in dem die Stimmen der Menschen, die die Besatzung überlebt haben, gehört werden. Künstler halten ihre emotionale und moralische Front aufrecht, erheben den nationalen Geist und den Glauben. In meiner Arbeit geht es um Künstler, die seit Jahrhunderten außerhalb der Schützengräben für ihre Literatur und ihr künstlerisches Erbe kämpfen, um die "künstlerische Mobilisierung".
Wir alle kennen es. Wollen es. Meinen, es zu brauchen. Anerkennung, Lob,
Bewunderung. Bloß nicht austauschbar oder mittelmäßig sein. Und dennoch scheint
darüber wenig gesprochen zu werden. Es mutet an wie eine stumme
Unzulänglichkeit. Ein “niederes” Gefühl, das zwar zutiefst menschlich ist, aber nicht
nach außen getragen werden soll.
Diese Arbeit ist eine Auseinandersetzung mit dem Streben nach „Besonderheit“, der
gesellschaftlichen Produktion von Einzigartigkeit, und der Frage, wie und auf welche
Weise sich dies im Berufsfeld Schauspiel niederschlägt. Welche historischen,
kulturellen und ökonomischen Implikationen hat es? Darüber nehme ich den
hoffentlich nicht allzu kulturpessimistischen Weg über einige Gesellschaftstheorien
zur Funktion des Wettbewerbs und Narzissmus als gesellschaftlicher Funktionslogik.
Um nachzuvollziehen, woher dieser, wie Kae Tempest es formuliert „zerstörerischer
Wunsch nach Anerkennung“ rührt. Um festzustellen, dass das nicht nur eine
individuelle Charaktereigenschaft, sondern eine alles durchdringende Funktionslogik
ist, die mich zwar in meinem alltäglichen Handeln beeinflusst und zeitweise belastet,
die aber nicht gegeben und somit auch verschiebbar ist.
Nicht zuletzt möchte ich mich mit der Frage nach alternativen Räumen
auseinandersetzen, in denen künstlerische oder kreative Praktiken fernab oder
zumindest entgegen dem Dispositiv der Einzigartigkeit passieren können. Welche
Praktiken, Räume und Modi wirken der Singularität, die dem Wunsch nach
Anerkennung innewohnt, entgegen?
Diese Arbeit befasst sich mit dem Thema der Stereotypen im Theater. Welche möglichen
Ansätze gibt es, um Darstellungen von Stereotypen nicht zu reproduzieren? Und wie wirken
sich stereotypisierte Rollenvorstellungen auf mein Spiel aus? In unserer heutigen
Gesellschaft gibt es häufig den Anspruch Stereotypen aufzubrechen und nicht an einer
heteronormativen Sichtweise hängen zu bleiben, dies geschieht im gegenwärtigen Theater
genauso wie in der Gesellschaft.
Im Theater dreht sich der Diskurs hauptsächlich um die Darstellung und Repräsentation von
Figurenklischés. Darunter fallen genauso Geschlechts und Gender fragen, sowie die, welche
Körperbilder, Körperformen, sexuellen Neigungen etc. auf der Bühne repräsentiert werden.
Diese Debatten betrifft natürlich auch die Frage, welche Menschen welche Positionen am
Theater besetzen.
Ich befasse mich in dieser Arbeit aber hauptsächlich mit der Frage, wie sich der Versuch
Stereotypen im Theater aufzubrechen auf meine Handlung und Spielweise als Schauspieler
auswirkt. Auch wird nicht in erster Linie entscheidend sein, wie mich verschiedene Ansätze
in der Rolle beeinflussen, sondern wie mich die möglichen Ansätze als Schauspieler und
somit erst dann im Spiel beeinflussen. Wie sie für mich produktiv werden können.
Die Darstellung von Stereotypen im Theater ist eine komplexe Thematik, die weitreichende
Auswirkungen auf das Schauspiel hat. Diese Arbeit untersucht, inwieweit der Versuch,
Stereotypen im Theater aufzubrechen, die Darstellung im Schauspiel beeinflusst,
insbesondere aus der Perspektive des Schauspielers. Zentral ist die Frage, welche
Strategien dabei sind und wie sie sich auf die Darstellung auswirken.
Im Zuge meines Theaterstudiums an der Zürcher Hochschule der Künste war ich Teilnehmer:in an einer Lehrveranstaltung namens „Perform Yourself“. Es handelte sich um einen Versuchsraum autobiografische Inhalte der Teilnehmer:innen in Soloperformances zu verarbeiten und gegebenenfalls durch autofiktionalen Elemente zu ergänzen. Im Zuge dessen konzipierte und performte ich einen Kabarettabend mittleren Umfangs. Ich habe seither grosses Interesse an der Arbeitsweise für meine eigene künstlerische Praxis und als Rezipient:in.
In der vorliegenden Arbeit spreche ich über die eigenen Auseinandersetzungen mit dem Thema und der Praxis. Ich erweitere den Diskurs um die Komponente einer Recherche, um einen weitläufigeren Blick zu ermöglichen. Um das Thema niederschwellig zugänglich zu halten, entscheide ich mich in dieser Abschlussarbeit eine einfache und inklusive Sprache zu verwenden. Formulierungen aus der „Ich-Perspektive“ oder „wir-Perspektive“ erheben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Ich berichte aus meinem eigenen Erfahrungspool, aus dem Gelerntes oder Gesehenes nicht stets auf eine einzige Quelle zurückgeführt werden kann. Die Grenzen der empirisch gesammelten Auseinandersetzungen und Arbeitsprozesse verschmelzen oder widersprechen möglicherweise Thesen, Theorien oder Erfahrungen anderer.
Zu Beginn der vorliegenden Arbeit machen wir einen Streifzug durch den literarischen Ursprung des Begriffs der Autofiktion und stellen diesen der Autobiografie gegenüber. Anschliessend widmen wir uns der Vertrauensfrage und dem Umfeld in dem autobiografische und -fiktionale Inhalte fruchtbar sein können. Ausserdem lernen wir die Ambivalenz der Potenziale imaginierter und praktizierter Wahrheiten kennen. Schliesslich werden anhand einzelner Beispiele mögliche aufkommende Probleme oder Potenziale im Zuge der Arbeit mit Autofiktion und -biografie aufgezeigt. Schliesslich erwähne ich einige Erfahrungen meiner eigenen künstlerischen Praxis. Am Ende der Arbeit versteht sich das Verzeichnis der literarischen wie performativen Quellen als ein Überblick meiner weitläufigen Auseinandersetzung mit dem Thema und dient als Einladung zur Gesprächsgrundlage sowie mögliche Inspiration.
Ich habe mich mit dem Gilgamesch-Mythos befasst, da seine Figur in einem
konstanten Moment der Unverfügbarkeit existiert. Es fehlt ihm an Gleichgesinnten. In
sein Leben tritt Enkidu, der für kurze Zeit in der Lage ist, ihm zu entsprechen. Als
Enkidu verstirbt sehnt sich Gilgamesh nach einem Substitut, der Unsterblichkeit.
Erika Fischer Lichte schreibt in ihrer Abhandlung über die Ästhetik des
Performativen, dass die liminale Erfahrung sich auch aus dem Zustand des
Unverfügbaren ergibt1. Sie bezieht sich darin auf Publikums Situationen, in denen
dem Zuschauenden der Zugriff auf bisher Bekanntes durch unklare Verhältnisse zum
Bühnengeschehen genommen wird. Die gewohnten Sehmuster werden gebrochen.
Der Observierende kann die Vorgänge nicht mehr klar einordnen und begibt sich
somit in einen liminalen Zustand.
In meiner Ausbildung als Schauspieler ist die Motivation einer Figur oder der Antrieb
hinter einem performativen Text die Ausgangslage, um im Auftritt klare Richtungen
zu verfolgen und in eine Lesbarkeit zu treten. In dieser Bachelorarbeit möchte ich
mich mit der Frage beschäftigen, was einer Motivation zugrunde liegt.
Ich glaube, dass Scham jeder Mensch ganz eigen für sich fühlt. Ihre Gründe aber können
Menschen teilen. Scham wurzelt nicht im Individuum, sondern in gesellschaftlichen
Normen. So signalisiert Scham sehr oft eine Diskriminierung.
Ich habe für diese Arbeit keine anderen Menschen befragt, sondern schreibe sie aus meiner Erfahrung mit der Scham
auf der Bühne. Gesellschaftliche Gründe für Scham werde ich hier nicht ausführen, weil
sie den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden. Ich werde in dieser Arbeit die Scham nicht
aus einem psychologischen oder soziologischen Blick erörtern.
Ich möchte in dieser Arbeit
beschreiben, wie ich, als angeschaute Person (nicht als zuschauende) die Bühne an sich als
ein Ort der Scham begreife. Dabei werde ich von einer “Grundsituation der Bühne“
ausgehen, die nicht die Realität abbildet. Es gibt nicht “das Publikum“, “die Spielenden“
oder “die Scham“. Jedes Publikum ist anders und jede Person darin auch. Jede Situation ist
in jedem Moment anders! Wenn ich von einer Bühne bzw. Bühnensituation schreibe,
konstruiere ich ein Modell, das nicht die Realität abbildet. Dieses Modell kann aber mir
und vielleicht auch euch Lesenden helfen, über die Scham auf der Bühne zu sprechen und
sie als Teil von dieser zu verstehen.
Zuletzt möchte ich die Bühne als einen Ort der Lust beschreiben, als einen Kink den ich
im Blick der anderen finde. Ich möchte festhalten wie wir auf der Bühne in der Scham
Gefahr und Lust erleben.