Description | - „Woyzecks Ort ist, wo fernab der Hauptstraßen der Schutt liegen bleibt, der beim Bau der Industrien aufgeworfen wurde. Zu spät, zu früh: was hier existiert, ist verkümmerte, abgelebte Vergangenheit und dumpf bedrohliche, zugleich bereits halb verpaßte Zukunft. Überaltert Verhältnisse (...) endlos sich dehnendes Hintropfen leerer Zeit der Reproduktion.
(...) Kaum je ein Augenblick des Glücks, der Befreiung, auch nur des Aufatmens (...), Körper und Gedanken sind beengt, Tätigkeit ist reduziert aufs mühsam-träge Einerlei der fruchtlosen Plackerei, die nicht mehr als gerade nur das Weitermachen ermöglicht.
In all dem einige, wenige Ausblicke: zum Beispiel die Liebe zu Marie, die Freundschaft mit Andres. Aber die Momente, in denen am Rand der Zeitstraße für kurze Zeit verheißungsvoll der Schein von anderem aufblitzt – ein Jahrmarkt vielleicht, eine Zärtlichkeit- sind rasch verschluckt. Ja, sie bringen Gefahr mit sich. Denn das träge Beharren, (...) ist zugleich Rettung, Sicherung. Routine unterbindet den Gedanken ans Sinnlose, Fühllosigkeit überdeckt die Verzweiflung. Wut und Aggression sind dieser Welt latent eingeschrieben. Zufällig, wann sie aufbricht, wen sie trifft. Nicht ganz zufällig gewiß, dass es die Frau ist. Doch unter anderen Umständen, zu anderer Zeit sind andere Opfer denkbar. (...)
Woyzeck steht unter Aufsicht. Kontrollierende Blicke organisieren die Welt, in der ihm ein Mord passieren wird. Die Blicke sind überall, der Überwachungsstaat verwirklicht sich durch ein unheimliches Netz gegenseitiger Bespitzelung. (...) Auf der Erde vermessen, registrieren, beobachten Leute wie der Doktor die Körper, lebende und tote Stoffe. Unter der Erde wachen Augen und Ohren, geheimnisvolle Kräfte und „Verbindungen“.
Aus diesem System führt kein Impuls heraus – fast. (...) Eine winzige Fluchtlinie hat Woyzeck gefunden. Sie heißt Phantasie.
Aus: Hans-Thies Lehmann, Das Politische Schreiben, Berlin 2012 (S.154f)
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