›Ermächtigt euch selber!‹ Die bildende Wirkung als Produkt
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Untertitel
Wie schwer wiegen Produkt- und Kunstorientierung bei Entscheidungen in theaterpädagogischen Stückentwicklungen im Hinblick auf die Selbstermächtigung der Amateur*innen?
In meiner Arbeit als Theaterpädagogin habe ich oft zwei Stimmen in mir, die mich in Situationen der Entscheidungsfindung beeinflussen. Sie sitzen links und rechts auf meinen Schultern. Links ist die Pädagogik, die befürchtet, dass mein künstlerischer Anspruch die Gruppe, die Gruppendynamik, den Probenprozess überlagert und so pädagogischen Ansprüchen nicht gerecht wird. Rechts ist das Theater, das mir bewusst macht, dass am Ende der Proben ein Stück steht, ein Produkt, das den Zusehenden eine bereichernde Erfahrung und ein ästhetisches Erleben ermöglichen soll. Wie lassen sich diese Ansprüche vereinen oder zumindest in einen produktiven Dialog bringen - Kunst und Pädagogik, Prozess und Produkt?
Meine Master Diplomarbeit mit dem Titel „under new management“, 2021, basiert auf der Befragung des gesellschaftlichen Phänomens der immateriellen Arbeit im postfordistischen System. Die Schauspielkunst kann als immaterielle Arbeit gelesen werden.
Immaterielle Arbeit ist jene Arbeit die sich nicht physisch manifestiert, sie produziert kein greifbares Produkt, sie fördert und verkauft Emotionen. Die Optimierung von Kommunikation ist für sie unerlässlich. Sie wird außerdem durch die Auflösung der herkömmlichen Trennung, von privatem und öffentlichem Raum, geprägt. Aus diesem Grund stellt sich mir folgende Forschungsfrage: „Wie wirken sich, das gesellschaftliche Phänomen der immateriellen Arbeit im postfordistischen System und seine physischen Räume, auf die darin agierenden menschlichen Körper und ihre individuelle Wahrnehmung des Selbst, aus? Wie kann ein Empowerment von diesen Strukturen aussehen?“ Diese Fragestellungen versuche ich im Folgenden theoretisch und unter der Betrachtung zweier künstlerischer Postionen, zu beantworten. Des weiteren werde ich in meiner künstlerischen Praxis an diesen Fragen forschen und mit meinem eigenen Körper im Bühnenraum nach Antworten suchen.
Hierzu befrage ich unter anderem das Bild des gläsernen Towers, als Symbol für immaterielle Arbeit, als architektonische Essenz des postfordistischen Systems, als Sinnbild für das kapitalistische Streben nach Wachstum, als Raum dessen transparente Fassade eine klare Trennung zwischen Innen und Außen schafft. Er scheint über allem erhaben, eine Festung für die Macht und deren Missbrauch, ein Symptom des hierarchisches Systems, welches wie eine Champagnerpyramide top down befüllt wird und so auch die gesamtgesellschaftlichen Strukturen wieder spiegelt.
Eine erklärende Einführung
Immer wieder wird diskutiert, welches politische Potenzial Theater hat. Diese Frage begleitet
auch mich seit Beginn durch die letzten dreieinhalb Jahre meines Studiums. Dies
äußert sich in meinem künstlerischen Schaffen mit dem paradoxen Kollektiv NEUE
DRINGLICHKEIT4, als dessen Teil ich mich verstehe. Eine der in diesem Rahmen entstandenen
Arbeiten möchte ich in dieser Thesis genauer untersuchen. Die Arbeit kreist um
das Grundthema der Ethik „Was ist zu tun?“.
Diese Frage stellte ich mir während meines Studiums wiederholt aus Perspektive der angehenden
Dramaturgin. Wie könnte ein „Theater der Zukunft“ aussehen? Wie kann man das
politische Potenzial5 des Theaters als Möglichkeitsraum nutzen? In diesem Zusammenhang
stieß ich wieder6 auf Brechts Lehrstücktheorie. Es kam der Wunsch auf, diese Theorie genauer
zu untersuchen und in einer szenischen Forschung möglichst konsequent umzusetzen.
In einem Gespräch mit Manfred Wekwerth7 sagte Brecht über „Die Maßnahme“, dieses Stück
zeige am besten seine Vision des Theaters der Zukunft.8 Davon angeregt, wuchs der Plan,
„Die Maßnahme“ umzusetzen und dabei Brechts Lehrstücktheorie wörtlich zu nehmen.
Wie im Einstiegszitat zu dieser Arbeit deutlich wird, gab es offensichtlich eine ähnliche
Untersuchung Brechts. Die Aufzeichnung dazu scheint jedoch verloren gegangen zu sein.
Dies diente als weitere Motivation einen Versuch in diese Richtung zu unternehmen. Nicht
der Zuschauer solle etwas lernen, sondern der Spielende, besagt die Idee. Es würde also in
unserem Versuch keine Zuschauer geben. Das Experiment fand am 6. Februar 2014 auf
Bühne A im Theater der Künste der ZHdK statt.
Die Recherche für die vorliegende Arbeit erfolgte im Hinblick auf das szenische Experiment.
Formuliert wurde sie, nachdem das Experiment verwirklicht worden war und ist
gleichzeitig eine Reflexion desselben. Zwar beziehe ich mich auf Brechts Lehrstücktheorie
und gehe in groben Zügen auf den vorangegangenen Lehrstückdiskurs ein, jedoch ist diese
Thesis kein Versuch, die Brechtforschung in all ihren Facetten zu erfassen oder gar sich in
diese einzugliedern – dies würde ihren Rahmen sprengen. Das Interessante an dem Bild
von Brecht, das nicht nur in den Massenmedien9, sondern auch in der Forschung divers ist, ist die Zerstückelung in unterschiedliche Aspekte seines Seins, Schaffens und Wirkens:
Aufschlussreich ist dazu beispielsweise ein Blick in die sehr verschiedengestaltigen Biografien
Brechts: So gibt es „Brecht und die DDR“, „Brecht in Amerika“, „Brecht in Augsburg“,
„Brecht in Buckow“, „Brecht in Skandinavien“, „Brecht und die Frauen“, „Brecht
und der Sport“, um nur einige Titel zu nennen, die erscheinen, wenn man im Verzeichnis
der Zentralbliothek Zürich (ZB) „Bertolt Brecht“ eingibt. Dieser Herangehensweise werde
ich mich anschließen und mich auf Brecht in der Lehrstückphase und besonders seine persönlichen
und theoretischen Schriften diesbezüglich konzentrieren. Diese Phase seines
Schaffens umfasst den Zeitraum seines Lebens zwischen 1929 und 1935. Auf Brecht als
Figur10, Autor und Theatermacher werde ich nur am Rande eingehen.
Diese Bachelorthesis habe ich aus der Perspektive einer praktisch ausgebildeten Theatermacherin
formuliert, die im Dramaturgiestudiengang der ZhdK ihren Schwerpunkt auf szenische
Forschung gelegt hat.
Als zweiten Teil der Einleitung werde ich zunächst die Arbeit des Kollektivs NEUE
DRINGLICHKEIT näher erläutern, um die Position, aus der ich spreche, zu verdeutlichen.
Dann folgt ein Exkurs über das Lehrstück, seine Entstehung in der Zusammenarbeit von
Brecht und Hindemith, eine Beschreibung der Lehrstücktheorie Brechts, ein kurzer Abriss
des Lehrstückdiskurses sowie beispielhaft die Schilderung eines Versuchs der theatralen
Umsetzung der Lehrstücktheorie durch das Kollektiv She She Pop am Staatstheater Stuttgart.
Exemplarisch werde ich „Die Maßnahme“ als Stücktext betrachten und seine Aufführungs-
und Rezeptionsgeschichte näher untersuchen.
In einem zweiten Teil folgen eine Versuchsbeschreibung der szenischen Forschung sowie
eine Reflexion der Umsetzung einer Theorie des Lehrstücks, die nicht einmal vom Autor
selbst so konsequent verfolgt wurde, und seine Wirkung an diesem Abend. Die Rückmeldefragebögen
(wir haben die von Brecht für das Publikum entwickelten Fragebögen von
1930 verwendet) werden in einem gesonderten Kapitel behandelt und Auswirkungen auf
das künstlerische Schaffen der NEUEN DRINGLICHKEIT dargestellt.
Zum Schluss werde ich hoffentlich der Vision eines politischenTheaters der Zukunft und
was wir daraus von Brecht lernen können, einen Schritt näher gekommen sein.
10 „Figur“ meine ich hier auch im Sinne von Mythos, das wofür Brecht steht, nicht nur als Mensch, sondern
als bedeutender Künstler im 20. Jahrhundert, der nun in den Reihen der „Klassiker“ zu finden ist.
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Die folgende Arbeit untersucht die künstlerische Arbeit am Theater im Kontext der Theaterprobe und stützt sich auf diverse Literatur und auf eigene Erfahrungen, welche ich innerhalb einer Spielzeit an einem Haus als Regieassistentin gemacht habe. Die Subjektivität dieser eigenen Erfahrungen
ist mir bewusst, ich habe jedoch diese Erfahrungen mit der jeweiligen Literatur abgeglichen, um eine objektive Haltung meiner Untersuchung gegenüber zu wahren. Ebenfalls ist es mir bewusst, dass diese Eindrücke sich auf ein Haus beziehen und Arbeitsabläufe und Probensituationen von Institution zu Institution anders ablaufen. Sie geben jedoch trotzdem einen Einblick in die künstlerische Arbeit an einem subventionierten Theaterhaus.
In meiner Arbeit möchte ich mich dem Vergleich zweier Probenprozesse widmen. Zum einen werde ich mich dem Probenprozess Ulrich Rasches auseinandersetzen, zum anderen mit den Theaterpraktiken von Gardzienice, die ich im ersten Kapitel vorstellen werde.
Im Oktober 2016 nahm ich im Rahmen meines Master-Schauspielstudium an der Zürcher Hochschule der Künste an einem einmonatigen Kurs bei Anna Zubrzycki in Wrocław teil, die mithilfe der Methoden und Praktiken von Gardzienice mit uns geprobt und gearbeitet hat. Mit Ulrich Rasche probe ich zurzeit „Die Bakchen“ von Euripides am Burgtheater Wien und werde diese beiden individuellen Herangehensweisen beschreiben, vergleichen und analysieren. Es sind zwei Produktionen, die mir sehr am Herzen liegen. Ich finde eine schauspielerische Offenbarung in beiden Ansätzen, auch wenn diese sehr verschieden sind. Ich habe mich für diese Untersuchung entschieden, da mir innerhalb meines Schauspielstudiums immer wieder Gerüchte über die schauspielerische Arbeit über den Weg gelaufen sind, da ich immer wieder Gerüchte über die schauspielerische Arbeit hörte. SchauspielerInnen müssten „abliefern“ es würde kaum am Ensemblegeist gearbeitet und jedeR müsse selbst u.a. die Textarbeit erledigen. Das Ensemblegefühl innerhalb von Stadttheatern ginge scheinbar verloren. RegisseurInnen seien mehr mit der Ästhetik und ihrem Konzept beschäftigt, als mit schauspielerischer Arbeit. Regisseure wie z.B. Christopher Rüping gäben deswegen Kurse für RegisseurInnen wie u.a. an der Zürcher Hochschule der Künste oder der Otto-Falckenberg Schule, da die neue Generation von jungen KünstlerInnen viel mehr durch Bilder geprägt sei und die Arbeit am Wesen der SchauspielerInnen immer mehr in den Hintergrund geriete.
Ich frage mich somit, was heutzutage Ensemblearbeit an einem Stadttheater wie dem Burgtheater bedeutet. Wie verläuft die Körper- und Textarbeit an solch einem großen Haus? Und wie verläuft diese in kleineren Theatergruppen? So entschied ich mich, zwei Probenprozesse miteinander zu vergleichen: ein fast in Vergessenheit geratenes "Dorftheater“ mit der gigantischen Theatermaschinerie Ulrich Rasches. Beide verfolgen eine körperliche, rhythmische, musikalische Arbeit. Dabei will ich nicht die beiden künstlerischen Ansätze und Endergebnisse bewerten, beurteilen oder interpretieren. Es geht mir darum, die schauspielerischen Arbeitsansätze zu beobachten und zu erläutern.
Berlin, 21. Mai 2018. Nach siebzehn Tagen Podiumsdiskussionen, Workshops und zehn ausgezeichneten Inszenierungen aus Wien, Zürich, München und Berlin kommt das Theatertreffen 2018 in Berlin zum wohlverdienten Abschluss. Am letzten Tag werden noch Preise verliehen, darunter der Alfred-Kerr-Darstellerpreis. Mit diesem wird Benny Claessens für seine herausragende schauspielerische Leistung in Am Königsweg in einer Inszenierung von Falk Richter ausgezeichnet. Der Juror ist Fabian Hinrichs. 2012 wurde ihm selbst bereits der Preis verliehen, heute bestimmt er den Preisträger, überreicht den Preis und hält eine Laudatio:
„Bist Du Künstler oder arbeitest Du im Service?“ Gleich zu Beginn stellt Hinrichs diese provokant rhetorische Frage. Sie ist an alle Schauspielende gerichtet und ist ihm die „wichtigste Frage“ 2 und sollte eigentlich klar zu beantworten sein. Doch ist dies anscheinend nicht der Fall: Ich muß schon sagen, es war ziemlich anstrengend, einen jungen Alfred Kerr-Preis-würdigen Schauspieler aufzuspüren, einen jungen Künstler, einen souveränen Schauspieler, keinen Dar-Steller und Dar-Geher und Dar-Steher, einen, den auch Alfred Kerr selbst vielleicht als Persönlichkeit ausgemacht hätte, keinen, der mit den Fingern schnipst, weil ihm gesagt wurde, er solle jetzt mal schnipsen. [...] Auf meiner Suche nach dem souveränen Schauspieler mit einer Leitung nach oben begegnete mir preußischer Gehorsam, wohl als erschütterndes, durch die Generationen hindurch gewandertes Erbe des preußischen Militarismus, wackeres Soldatentum, man sah Menschen bei anstrengender Arbeit zu.
Ausgehend von einem Interview mit den beiden Schweizer Schauspielerinnen Sabine Timoteo und Doro Müggeler über die Lust am Spiel, über Vertrauen und Machtmissbrauch am Set und wie sie gelernt haben, Nein zu sagen in der Zürcher Zeitung WOZ vom 1.3.2018, bin ich auf den Begriff „Anasyrma“, gekommen. Als Anasyrma wird die Geste bezeichnet, „mittels derer der Blick auf das weibliche Genital freigegeben wird“. Timoteo beschreibt eine kritische Situation, die sie als junge Schauspielerin auf einem Filmset erlebt hat. Sie hatte eine kleine Rolle als lesbische Frau und sollte mit ihrer Partnerin im Bett liegen. Im Drehbuch stand, die beiden Frauen seien abends im Bett am Lesen. Während des Drehs verlangte der Regisseur plötzlich von ihr, dass sie sich nackt ausziehen soll. Davon war aber davor nie die Rede gewesen. Im Wissen darüber, dass im Schweizer Fernsehen sowas nie gezeigt werden würde, „weil es dort nur Brüste zu sehen gibt, aber keine Schamhaare oder Schamlippen“, meinte Timoteo: „entweder ganz nackt oder mit T-Shirt und Unterhose“. Timoteo hatte dann „extra alles so richtig gezeigt“, hat also ihre Vulva entblösst. Die Szene konnte dann tatsächlich nicht verwendet werden, weil sie zu extrem war für das Schweizer Fernsehen. Somit hat Timoteo ihre Nacktheit, genauer genommen ihre Vulva, in diesem Moment als Statement oder als Waffe benutzt und die Situation zu ihren Gunsten umgedreht.
Anasyrma nennt sich diese Geste und sie ist als eine apotropäische Handlung, eine Abwehrhandlung, zu verstehen. Sie dient dazu, das Böse auszutreiben oder Unheil abzuwenden, Schaden fernzuhalten oder unwirksam zu machen. So finden sich in den meisten Mythologien Geschichten, in denen die Menschheit mindestens einmal durch die Zurschaustellung der Vulva gerettet wurde.6 Es gibt Überlieferungen von zahlreichen Sagen und Legenden, ebenfalls wurden über 30'000 Jahre alte figurative Vulva- Skulpturen gefunden. Das wohl berühmteste Beispiel der Anasyrma in der Moderne und gleichzeitig ein Meilenstein in der feministischen Kunst ist die Fotoserie „Genitalpanik“ von Valie Export von 1968, auf die im weiteren Verlauf dieser Arbeit Bezug genommen wird. Heutzutage fällt auf, dass gerade in der Kunst im Zuge der #MeeToo- Debatte viele Frauen auf die Handlung der Anasyrma zurückgreifen. Auch in der Literatur wimmelt es von Vulven. So hat Mithu M. Sanyal 2017 mit ihrem Buch „Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ eine Kulturgeschichte der Vulva geschrieben. Oder die schwedische Künstlerin Liv Strömquist hat 2014 den Comicband „Der Ursprung der Welt“ herausgegeben. Als ich meiner Kollegin, der Performerin und Regisseurin Antje Prust davon erzählt hatte, stellte sich heraus, dass sie sich gerade zum selben Zeitpunkt mit Anasyrma beschäftigte. Sie praktizierte die Geste sogar selber in ihrer neusten Performance „A circle of cunts protects me from ghosts“ im Rahmen der Zusatzreihe „Unlearning Patriarchat“ an den Berliner Festspielen 2018 praktizierte. Dies nahm ich zum Anlass, sie zu interviewen und mehr über Anasyrma zu erfahren.
In der ersten Woche meines Bachelor-Regie-Studiums an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg wurde ich aufgefordert, mir selbst einen Brief zu schreiben. Vier Jahre später wurde mir dieser Brief gemeinsam mit meinem Bachelor-Abschlusszeugnis überreicht. In diesem Schriftstück steht, dass mein größter Wunsch ist, ein Theater zu leiten. Seit nun mehr acht Jahren forme ich diesen Wunsch zu einem konkreten Bild.
Neben meiner Arbeit als Regisseurin und der Auseinandersetzung mit kollektiven Arbeitszusammenhängen beschäftige ich mich intensiv mit den bestehenden Strukturen des deutschsprachigen
Theatersystems. Die Entscheidung, in Zürich, das Masterstudium in Regie anzuhängen, war unter anderem damit verbunden, dass ich hier drei kollektiv-geleitete Theaterhäuser mit sehr unterschiedlichen Strukturen beobachten konnte. Ich wollte in Zürich sein, um das Theater Gessnerallee, das Theater Neumarkt und das Schauspielhaus Zürich aus der Nähe zu erleben. Während der letzten zweieinhalb Jahre habe ich von außen diese drei Institutionen beobachtet und mich innerhalb meines Studiums in Theorie und Praxis intensiv mit Institutionskritik beschäftigt. Mit diesen Erkenntnissen und in intensivem Austausch mit meinem Kollegen Fynn Malte Schmidt entstand schließlich das Vorhaben, uns am Ende unseres Studiums für die Leitung eines Theaters zu bewerben.
Hier kommt nun das Theaterhaus Jena ins Spiel: das einzige deutschsprachige Stadttheater, welches als Experimentierraum und Talentschmiede für junge Theaterschaffende gilt. Das Theaterhaus Jena ist ein Ensembletheater in Thüringen, wird mit offiziellen Geldern finanziert und ist somit Teil des Stadttheatersystems. Jedoch einmalig ist, dass das Theaterhaus alle vier bis sechs Jahre die Position der künstlerischen Leitung explizit für Kollektive ausschreibt, auch ohne bisherige Leitungserfahrungen. Seit der Wende ist das Theaterhaus Jena eine gemeinnützige GmbH, welche sich für kollektive Leitungsprinzipien starkmacht.
Bevor ich unser Leitungskonzept vorstelle, möchte ich zu Beginn dieser Untersuchung die Frage stellen „Warum eigentlich Theater?“. Dieser Frage gehe ich in Kapitel 2 unter anderem im Dialog mit dem Essay von Jakob Hayner „Warum Theater – Krise und Erneuerung“ nach. Seine These lautet, dass das Theater in einer Krise steckt und diese nur überwunden werden kann, wenn wir nicht mehr nur versuchen, das Theater immer und immer zu erneuern, sondern wenn wir uns ernsthaft die Frage stellen, warum wir das Medium Theater wählen. „In allen Debatten um die Zukunft des Theaters ist diese Frage eigentümlich abwesend.“
Innerhalb dieser Masterarbeit möchte ich nun die Frage beantworten, warum ich Theater mache, da ich mir diese Frage während meiner gesamten Ausbildung bisher nicht gestellt habe. Um die Thesen von Jakob Hayner nachvollziehen zu können, habe ich mich mit „Der leere Raum“ von Peter Brook beschäftigt, auf welchen sich Hayner in seinem Essay mehrmals bezieht. Brook und Hayner zeigen beide auf, dass der Ausruf der Krise des Theaters nichts Neues ist und auch der Wunsch nach Erneuerung sich innerhalb des Theaters über Jahrhunderte hinweg immer wieder wiederholt. Nachdem ich Peter Brooks Ansätze skizziert habe und mir kritisch das Essay von Hayner betrachte, werde ich zum Schluss des zweiten Kapitels selbst die Frage „Warum Theater?“ beantworten.