„Die Wahrheit des Erlebens im Beschreiben zu wiederholen – die Welt also kühler, unverständlicher, unheimlicher, fremder, unmenschlicher und zugleich heisser, gegenwärtiger, zudringlicher, sichtbarer, menschlicher zu machen –, das ist das Schwierigste.“ (Milo Rau, 2015, S. 21)
Seit seinen Anfängen ist es die Aufgabe des Theaters, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, in der es stattfindet. Dies bedeutet nicht nur politische, kulturelle und gesellschaftliche Ereignisse zu verarbeiten oder zu kommentieren, sondern automatisch auch Teil dieser Ereignisse zu werden. Da Theater immer eine Erfahrung zwischen Menschen in einem Moment ist, findet es zum einen in der Gesellschaft statt und zum anderen bildet sich Gesellschaft im Theater: so erschafft es sich in gewissem Masse das eigene Selbstverständnis. Ob es sich damit begnügt, der Gesellschaft vermeintlich harmloses Vergnügen zu bereiten und das Thema zwangloser Pausenkonversation zu sein, oder ob es sich bewusst und gezielt mit der Gemeinschaft der Menschen und der eigenen Funktion darin (kritisch) auseinandersetzen will, macht dabei keinen
Unterschied. Seine gesellschaftliche Funktion ist nichts, wofür oder wogegen sich ein Theater entscheiden könnte: Es hat sie.
Dabei schafft oder erschliesst sich das Theater seine Gesellschaft immer auf Basis eines Konstruktionsprozesses, das heisst es erschafft einen künstlichen Raum, der in direkter Verbindung zu der Wirklichkeit steht, die es umgibt. Dies ist auch das Thema der vorliegenden Arbeit: die Erschliessung einer Wirklichkeit mit theatralen Mitteln. Dabei stellt diese Arbeit die beiden Theaterschaffenden Milo Rau und Bernd Stegemann in ihren Fokus, die in den letzten Jahren innerhalb der Debatte um die Möglichkeit von Realität richtungsweisende und prägende theoretische wie praktische Beiträge geliefert haben und, aus Sicht des Autors, zwei Pole theatraler Erschliessung der Wirklichkeit darstellen. Damit bieten sie einen geeigneten Analyserahmen, um auch die eigene Arbeit im Kosmos Theater daran zu messen und auszurichten.
Was also ist Realität?