Der konkrete Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist meine Master-Abschlussproduktion «Schweizer Revolution – ein Preenactment», eine Real-Fiktion zum 100. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution. Im geschichtsträchtigen Saal im Zürcher Volkshaus, in der Lenin vor seiner Abreise nach Petrograd 1917 eine vielbeachtete Rede hielt, versammelten sich am 7. November 2017 wieder Hunderte, um über den weiteren Verlauf der über die Nacht hereingebrochenen Schweizer Revolution zu befinden. Doch was tun, jetzt, wo alles möglich erscheint?
Diese Frage Lenins «Was tun?» verfolgt die Linke bis in die Gegenwart hinein, und deren Antworten darauf sind seither wohl kaum je so zaghaft ausgefallen wie heute, und das trotz bemerkenswert negativer Entwicklungen. Auf den Befund aufbauend, machte ich mich im Sommer 2017 daran, auf Basis zahlreicher Interviews mit kapitalismuskritischen Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Politiker*innen eine fiktive Geschichtsschreibung zu entwerfen, die am 7. November 2017 in der «Schweizer Revolution» zur Aufführung kam.
Die Besonderheit des Settings: Kein Bühnenzauber, keine theatralen Gesten waren zu sehen, sondern der Versuch einer Real-Fiktion, in der Schauspieler*innen, landesweit bekannte Politiker*innen und Aktivist*innen Seite an Seite mit den versammelten Zuschauer*innen den «Aufstand der Demokratie» zu meistern versuchen. Wer reden wollte, bekam das Mikrofon, wer Fragen hatte, erhielt Antworten. Das Ziel: das Unvorstellbare – die gelingende Alternative – greif- und erlebbar zu machen, für einen ereignishaften Moment.
Schweizer Revolution beschränkte sich nicht auf das Pre-enactment im Volkshaus. Es gab ab Ende Oktober eine Vorkampagne in den Sozialen Medien, und am Folgetag des Pre-enactments, dem 8. November, blickten wir mit dem Vater der Gemeinwohlökonomie, Christian Felber und der Nationalrätin und Unternehmerin Jacqueline Badran im voll besetzten Cabaret Voltaire zurück auf das Erlebte – die vorweggenommene real-utopische Gegenwart – und trugen die Debatte rund um die Frage «Was tun?» zurück ins Diesseits.
Ich kann mich gut erinnern, wie in der Mitte der Diskussion eine Anwesende das Wort ergriff: «Stellt euch vor, der gestrige Abend fände nicht nur einmal statt, sondern tausendmal, und stellt euch vor, der Aufführungsort wäre nicht Zürich oder die Schweiz, sondern die Banlieus Frankreichs!»
Wenn Hunderte Male die Menschen in die Real-Fiktion versetzt werden, dass wir mitten im Um- und Aufbruch stehen, der Stagnation entronnen, das Momentum der Träume beginnt: Was könnten diese hundertfachen messianischen Erlösungsmomente auslösen?
Der Alltag holte uns ein. Wir widmeten uns, wie im Betrieb üblich, wieder anderen Themen und Formaten. Abgespielt blieb das Projekt zurück als Karteikarte und Youtube-Zombie. Doch die eingeworfene Frage, sie blieb hängen, nagt an mir bis heute. Da hatten wir ein Format entwickelt, das vermocht hatte, aktive Beteiligung der im Raum versammelten Menschen zu kreieren, Anwesenden ihre Träume zu entlocken und trotz des fiktiven Settings eine ereignishafte Dringlichkeit zu schaffen - dabei sollte es bleiben?