Wer inszeniert, die montiert, die wählt Zeuginnen-Aussagen oder Textausschnitte aus. Lässt auftreten, verstummen, verteidigen oder anklagen. Richtet das Licht, oder lässt den Vorhang im entscheidenden Moment hinunter. Wer inszeniert hat Macht.
Ich nutze mit ROT ODER TOT diesen Macht-Moment aus, indem ich Spielerinnen auf die Bühne stelle, die von einer anderen DDR Vergangenheit zeugen, als sie weithin postuliert wird. Schon immer war die Frage nach der Zeugin eine zwiespältige, denn es stellt sich die Frage, woher kommt die Zeugin, wer hat sie ausgewählt, welcher politischen Partei steht sie nahe, welchen Glaubenssätzen, welchem Wertesystem und welchen Überzeugungen. Was will die Zeugin selbst mit ihren Aussagen bewirken? Diese Fragwürdigkeit hat nach einem Jahrhundert, in dem die Definition von Wahrheit neu gestellt werden musste, nun dazu geführt, dass die Evidenz von Wahrheit ganz auf dem Spiel steht.
Da jede Zeugin fragwürdig ist, lässt sich scheinbar nun alles behaupten. Das passiert auf der politischen Bühne, in der Öffentlichkeit, online und auf dem Theater. Ein jüngeres Beispiel ist die Affäre des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL. Die Wochenzeitschrift musste feststellen, dass einer ihrer Journalisten zahlreiche Reportagen und Interviews gefälscht, aufgehübscht und zum Teil erfunden hat; so auch ein Interview mit der letzten Überlebenden der Weißen Rose Traute Lafrenz. Auch wenn dieser Fall nun aufgeklärt wurde, so kommt diese Art von Geschichtsfälschung immer wieder vor und führt zu einer Geschichtsverschiebung. Das Erzählte ersetzt das Geschehene. Die eigentliche Vergangenheit wird durch die neue, geschönte, spektakulärere, mitreißendere, zur jetzigen Erinnerungspolitik passenderen, ersetzt. Auch in unseren Köpfen.
Geht es um das wie – oder um das was? Was bedeutet die Selbstermächtigung des Schauspielers in Zusammenarbeit mit einer Regie die zur Partizipation einlädt ?
Der professionelle Prozess im Erarbeiten einer Inszenierung ist ein fragiler.
An einer Produktion sind viele Menschen beteiligt, mit unterschiedlichsten Haltungen zum Gegenstand der verhandelt werden möchte. Dies ist ein komplexer Vorgang.
Weil nicht nur der Sachgegenstand, damit meine ich das gewählte Stück oder Thema, verhandelt wird, sondern auch die soziale Komponente einen großen Einfluss hat. Die soziale Komponente oder das „Zwischenmenschliche“ ist eine variable Größe, die einem auf die Füße fallen kann. Je komplexer das Verhältnis zwischen den Beteiligten ist, desto vielfältiger sind die Gefahren. Sobald sich der Prozess vom „WAS verhandeln wir“ entfernt und es zu Konfliktsituationen kommt, die den inhaltlichen Diskurs verlassen und damit bestimmte Grundverabredungen in der Zusammenarbeit missachtet werden, Tanzbereiche oder besser Kompetenzbereiche überschritten oder gar missachtet werden, verunmöglicht dies eine fruchtbare Zusammenarbeit.
Worin könnte also ein mögliches Missverständnis bei der Einladung zu partizipativer Zusammenarbeit begründet liegen? Wie könnte sie sich fruchtbar gestalten? Welche Art von Verabredung ist dafür von Nöten ? Und welche Verabredungen lassen eine Arbeit im schlimmsten Fall scheitern und nicht zur Aufführung kommen?
Mich interessieren diese Fragen besonders, weil ich sowohl mit der Spieler*innen- als auch der Regie-Expertise auf diese Prozesse schauen kann und so verschiedene Aspekte beidseitig beleuchten, untersuchen und beschreiben möchte.
In meiner Masterthesis werde ich mich in einem essayistischen Stil, im Sinne einer Erfahrungsanalyse, mich folgender Fragestellung widmen :
Theater machen ein fragiler Prozess.
geht es um das wie – oder um das was?
Was bedeutet die Selbstermächtigung des Schauspielers
Darüber hinaus treiben mich die oben genannte Fragestellungen aus praktischen, zukunftsorientierten Gründen um. Dringlich stellt sich mir die übergeordnete Frage - sowohl als Schauspielerin als auch als leitende Künstlerin: Welche Verabredung wollen wir, will ich, zukünftig im Theater treffen.Beziehungsweise welches „commitment“ mache ich künftig mit jeder Arbeit für mein jeweiliges Wirkungsfeld, entsprechend meiner Position.
Das Theater wandelt sich, kämpft ums Überleben, wie schon immer. Aber gerade jetzt für mein Empfinden stärker denn je. Denn neben dem Einzug der Digitalisierung in das Theater, den ich sehr begrüße, da sich für mich wundervolle Erzählmöglichkeiten bieten, Erzählräume eröffnen, definiert sich auch der Begriff des Schauspielers neu.
Wohlwollender formuliert könnte man auch sagen: er erweitert sich zu einem, in dem Spieler*innen als eigenständige Künstlerpersönlichkeiten deutlicher in Erscheinung treten wollen und dürfen.
Am Anfang dieser Arbeit steht das ganz allgemeine Interesse an der Antike und ihrem Theater.
Bei der der Suche nach Themen oder Stücken für meine Abschlussinszenierung im Master tauchten verschiedene antike Stoffe immer wieder auf. In den verschiedensten Bearbeitungen las ich vor allem antike Tragödien und war immer wieder fasziniert von ihren Themen. Die Frage nach der Aktualität dieser Stoffe stellte sich zwangsläufig, besonders, nachdem die Entscheidung gefallen war, Medea zu inszenieren. Warum sich auf solch alte Geschichten beziehen und nicht ein heutiges Thema behandeln, ein Stück aus der eigenen Generation? Warum sich auf Euripides stützen und nicht eine modernere Fassung wählen? Das Interesse an dem antiken Stoff ließ sich nicht genauer benennen und evozierte einige Überlegungen und Recherchen zu antiken Stücken und ihren Bearbeitungen.
Nach wie vor finden sich zahlreiche Stoffe aus der Antike auf den Spielplänen der deutschsprachigen und internationalen Bühnen. Gleichzeitig tauchen immer wieder Bearbeitungen der Stoffe in der Literatur auf. Vor allem die Bearbeitungen der Tragödien scheinen omnipräsent und von großem Interesse. Fast alle zeitgenössischen Stücke, die als tragisch bezeichnet werden, beziehen sich in irgendeiner Form auf antike Vorlagen, Mythen oder ältere Stücke. Daraus ergibt sich nahezu automatisch die Frage, ob eine eigenständige Tragödie ohne Vorlage in der heutigen Literatur überhaupt noch existent sein kann. Gibt es überhaupt noch tatsächliche Tragödien oder handelt es sich immer um Bearbeitungen antiker Tragödien? Was genau muss ein Stück mitbringen, um eine tatsächliche Tragödie zu sein? Sowohl inhaltlich als auch formal? Und worin genau liegt der Reiz dieser antiken Tragödien, dass sie seit zweitausend Jahren wieder und wieder umgedeutet und aufgeführt werden?
Es reizt mich zu überlegen, warum Themen wie Rache, Liebe und Mord auf deutschsprachigen Bühnen nach wie vor in antiken Stoffen verhandelt werden, sei es in Bearbeitungen oder Inszenierungen der erhaltenen Stücke. Besonders die Dichte der antiken Tragödien in den Spielplänen drängt sich nahezu auf. Viele Literatur- und Theaterwissenschaftler haben Überlegungen zur Tragödie im Jetzt publiziert und die Frage gestellt, ob eine Tragödie im Heute überhaupt noch schreibbar ist. Lassen sich Tragödien wie jene von Euripides, Aischylos und Sophokles in heutigen Werken finden? Oder liegt in der Unmöglichkeit dieser
heutigen Tragödie der Grund für das Interesse und die Bearbeitungen antiker Tragödien?
Diese Arbeit wagt ein Gedankenexperiment. Sie setzt ein heutiges Stück einer antiken Tragödie gleich und überprüft diese Lesart auf ihre tatsächliche Machbarkeit. Am Anfang dieses Experimentes steht die Frage, ob ein heutiges Stück eine Tragödie sein kann oder einfach nur tragisch. Es geht also um aktuelle Stücke, welche nicht auf Mythen oder Vorlagen basieren, sondern sich auch inhaltlich vollkommen in der Gegenwart verorten.