„Damit eine Aufführung stattfinden kann, müssen sich Akteure und Zuschauer für eine bestimmte Zeitspanne an einem bestimmten Ort versammeln“1 konstatiert Erika Fischer-Lichte in ihrem viel rezipierten theaterwissenschaftlichen Grundlagenwerk Ästhetik des Performativen von 2004. Diese mediale Grundbedingung von Theater bildet aber bereits lange vorher einen zentralen Gegenstand der das Theater betreffenden Theorie. Die Frage nach Gemeinschaft war und ist dabei stets ein wesentlicher Aspekt, in der die ästhetische und die politische Dimension sich überlagern.2 Seit Beginn des laufenden Jahrzehnts eine intensive Debatte über Strukturen politischer Repräsentation und möglicher ihrer Kritik daran geführt, im Zentrum derer auch die Beschäftigung mit der Praxis des Sich-Versammelns in politischen Kontexten und damit einhergehenden performativen Protokollen steht. Daran anknüpfend entwickeln sich seitdem auch im zeitgenössischen Theater mehr und mehr künstlerische Formate, die sich operativ auf unterschiedliche Weise mit der Praxis des Versammelns beschäftigen. Dabei wären Künstler*innen und Gruppen wie die geheimagentur, Rimini Protokoll, Hannah Hurtzig (Mobile Akademie), LIGNA u.v.m. zu nennen.
In der vorliegenden Arbeit soll zum Einen eine historische Entwicklung der mit dem Theater als Dispositiv der Versammlung assoziierten Konzepte von Gemeinschaft und ihrer Herstellung anhand markanter Punkte in der deutschsprachigen theatertheoretischen Auseinandersetzung der Moderne nachgezeichnet werden, die schließlich in einer Auseinandersetzung mit der Studie Kunst des Kollektiven von Kai van Eikels mündet. Dieser wendet den Blick in Bezug auf die kollektive Dimension entschieden von der Herstellung von Gemeinschaft ab und versucht ein Verständnis von performativer Kunst zu etablieren, das die
politische Implikation gerade nicht in der bloßen Gemeinschaft stiftenden Wirkung sieht. In einem zweiten Schritt soll van Eikels Zugriff auf die kollektive Dimension des Theaters mit den Charakteristika verknüpft werden, welche Sibylle Peters anhand gegenwärtiger künstlerischer Formate für eine Kunst der Versammlung ausmacht, und daraus Handlungsmöglichkeiten für die Gestaltung solcher Formate im Sinne des van Eikelsschen Zugriffs auf performative Kunst herausgestellt werden.
Der konkrete Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist meine Master-Abschlussproduktion «Schweizer Revolution – ein Preenactment», eine Real-Fiktion zum 100. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution. Im geschichtsträchtigen Saal im Zürcher Volkshaus, in der Lenin vor seiner Abreise nach Petrograd 1917 eine vielbeachtete Rede hielt, versammelten sich am 7. November 2017 wieder Hunderte, um über den weiteren Verlauf der über die Nacht hereingebrochenen Schweizer Revolution zu befinden. Doch was tun, jetzt, wo alles möglich erscheint?
Diese Frage Lenins «Was tun?» verfolgt die Linke bis in die Gegenwart hinein, und deren Antworten darauf sind seither wohl kaum je so zaghaft ausgefallen wie heute, und das trotz bemerkenswert negativer Entwicklungen. Auf den Befund aufbauend, machte ich mich im Sommer 2017 daran, auf Basis zahlreicher Interviews mit kapitalismuskritischen Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Politiker*innen eine fiktive Geschichtsschreibung zu entwerfen, die am 7. November 2017 in der «Schweizer Revolution» zur Aufführung kam.
Die Besonderheit des Settings: Kein Bühnenzauber, keine theatralen Gesten waren zu sehen, sondern der Versuch einer Real-Fiktion, in der Schauspieler*innen, landesweit bekannte Politiker*innen und Aktivist*innen Seite an Seite mit den versammelten Zuschauer*innen den «Aufstand der Demokratie» zu meistern versuchen. Wer reden wollte, bekam das Mikrofon, wer Fragen hatte, erhielt Antworten. Das Ziel: das Unvorstellbare – die gelingende Alternative – greif- und erlebbar zu machen, für einen ereignishaften Moment.
Schweizer Revolution beschränkte sich nicht auf das Pre-enactment im Volkshaus. Es gab ab Ende Oktober eine Vorkampagne in den Sozialen Medien, und am Folgetag des Pre-enactments, dem 8. November, blickten wir mit dem Vater der Gemeinwohlökonomie, Christian Felber und der Nationalrätin und Unternehmerin Jacqueline Badran im voll besetzten Cabaret Voltaire zurück auf das Erlebte – die vorweggenommene real-utopische Gegenwart – und trugen die Debatte rund um die Frage «Was tun?» zurück ins Diesseits.
Ich kann mich gut erinnern, wie in der Mitte der Diskussion eine Anwesende das Wort ergriff: «Stellt euch vor, der gestrige Abend fände nicht nur einmal statt, sondern tausendmal, und stellt euch vor, der Aufführungsort wäre nicht Zürich oder die Schweiz, sondern die Banlieus Frankreichs!»
Wenn Hunderte Male die Menschen in die Real-Fiktion versetzt werden, dass wir mitten im Um- und Aufbruch stehen, der Stagnation entronnen, das Momentum der Träume beginnt: Was könnten diese hundertfachen messianischen Erlösungsmomente auslösen?
Der Alltag holte uns ein. Wir widmeten uns, wie im Betrieb üblich, wieder anderen Themen und Formaten. Abgespielt blieb das Projekt zurück als Karteikarte und Youtube-Zombie. Doch die eingeworfene Frage, sie blieb hängen, nagt an mir bis heute. Da hatten wir ein Format entwickelt, das vermocht hatte, aktive Beteiligung der im Raum versammelten Menschen zu kreieren, Anwesenden ihre Träume zu entlocken und trotz des fiktiven Settings eine ereignishafte Dringlichkeit zu schaffen - dabei sollte es bleiben?
Das Unheimliche, als das ungreifbar Angsterregende, ist ein wichtiges narratives und ästhetisches Element, das neben Elementen wie dem Komischen oder dem Spannenden das Interesse an einer Geschichte erweckt. Obwohl einem in der realen Welt ungern unheimlich ist, kann das Unheimliche interessanterweise in fiktiven Kontexten auch eine Art Lust bereiten. Was ist also das Reizvolle am Unheimlichen? Während das Unheimliche im Medium Film boomt – vor allem in Genres wie Horror, Mystery und Thriller – und auch in der Literatur nicht selten anzutreffen ist – von Schauerromanen der Phantastik bis zu zeitgenössischen Horror- und Fantasyromanen –, scheint es im Medium Theater etwas in Vergessenheit geraten zu sein. Ursprünglich war der Zweck der Tragödie zwar eleos (Jammer, Mitleid) und phobos (Furcht, Schaudern) zu erzeugen (vgl. Aristoteles 335 v. Chr., S. 14 / c. 5, 3), doch hat sich das Gewicht der Katharsis mit Lessing etwas verlagert, sodass das tugendhafte Mitleid im Zentrum steht. Das Schaudern ist bei ihm ans Mitleid
geknüpft und sein Zweck ist somit in erster Linie, den Zuschauer moralisch zu bilden (vgl. Lessing 1768, 74.–77. Stück, S. 378–397). Artaud forderte im letzten Jahrhundert das Grauen im Theater durch Brechung verschiedenster Theaterkonventionen zurück (vgl. Artaud 1933, S. 89–107), doch muss man im postdramatischen Theater richtig nach dem Grauen, Schaudern und Unheimlichen suchen. Denn durch den Modus des Zeigens und des Offenlegens der Medialität wird die emotionale Involvierung in die fiktive Welt erschwert. Andererseits erzeugt das Hervortreten der Machart auch ein unheimliches Verhältnis von Realität und Medialität, die das Unheimliche im Gegenwartstheater prägt (vgl. Günther 2018, S. 102).
Es geht hier um die Frage, ob und wie das Unheimliche Platz im zeitgenössischen Theater findet. Dahinführend soll erst einmal untersucht werden, was das Unheimliche von anderen Stimmungen abgrenzt und welche narrativen, ästhetischen und psychologischen Strukturen ihm zu Grunde liegen. Obwohl man viele unheimliche Motive aufzählen kann (Untote, lebendig werdende Puppen, Doppelgänger, real werdende Träume, Dunkelheit, Nacht, Wald, Friedhof, usw.), fällt es schwer, eine grundlegende Struktur zu definieren, die auf alle diese und nur diese Motive zutrifft. Der bekannteste Versuch, das Unheimliche greifbar zu machen, findet man wohl in Sigmund Freuds „Das Unheimliche“ (Freud, 1919). Dieser Text dient als Anstoss für viele weitere Theoretiker, die sich mit dem Unheimlichen auseinandersetzen, liefert aber eigentlich an sich keine vollständige Theorie des Unheimlichen (s.a. Dollar 1991, S. 5). Das Phänomen des Unheimlichen ist schwer greifbar, weil seine strukturellen Eigenschaften auch bei anderen Phänomenen festzustellen
sind. Das Unheimliche hat also gewisserweise viele „Doubles“, welche beim Versuch, das Unheimliche auf eine Theorie festzunageln, stören. Gerade das Komische hat viele strukturelle Gemeinsamkeiten mit dem Unheimlichen: die Wiederholung, die Überraschung, der Regelbruch, das Abnorme, die Figur des Clowns, der Doppelgänger. Warum haben diese gegensätzlichen Emotionen – Amüsement und Angst – als Auslöser so ähnliche Strukturelemente und was entscheidet schliesslich, ob diese oder jene Emotion evoziert wird? Die Strukturelemente können ausserdem bei einem Film anders gestaltet sein als bei einer Theaterinszenierung. Es stellt sich also auch die Frage, wie die narrativen und ästhetischen Strukturen des Unheimlichen mit der jeweiligen Medialität zusammenhängen.