Diese theoretische Abschlussarbeit des praktisch-orientierten Studiengangs Schauspiel an der
Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) fand ihren Impuls zur Entstehung in der Praxis selbst.
Dies mag auf diesem Feld nicht unüblich sein. Denn Gegenstand des Schauspiels und des
Schauspielens ist immer etwas Menschliches,3 und dieses Menschliche vor zuschauenden
Menschen zu thematisieren bedarf eines praktischen Vollzugs, einer Verkörperlichung und
Gestaltwerdung, kurz: einer Praxis. Diese Praxis des Schauspielens ist eine weitreichende, sich
verändernde, institutionalisierte, vielseitige. Schauspielen umfasst Diskurse von
Menschendarstellungen, Theaterformen, Verhältnisse von Aussagesubjekten und
Ausgesagtem, kulturpolitische Befragungen, Machtverhältnisse und hierarchische Strukturen
betreffend Gender, Ethnie, Künstlerbilder, Institutionen, Markt und allermöglichen
Themenverhandlungen. Und dennoch, trotz all der Komplexität bleibt das Schauspielen immer
eine praktische Sache.
Kann man eigentlich eine Figur anders spielen, als der Autor sie angelegt hat? Bis zu einem
gewissen Grade ist das möglich, sonst hätte es keinen Reiz ein und dasselbe Stück immer
und immer wieder zu spielen. Andere Inszenierungsideen und andere Schauspieler
beeinflussen und verändern natürlich einzelne Figuren. Doch wenn sich die Regie
entscheidet den Text nicht grundlegend zu verändern, gibt es trotz aller äusseren
Unterschiede immer auch gewisse Konstante die sich durch alle Interpretationen
durchziehen, Konstante die eine Figur definieren. In diesen Konstanten mogeln sich häufig
längst überholte Klischees unbemerkt auf die Bühnen der Theater.
So passiert es noch viel zu oft, dass patriarchal durchdrungene Frauenfiguren aus älteren
Stücken völlig unreflektiert auf den Bühnen zu sehen sind.
Dies aktiv zu vermeiden, stellte sich in meinen Erfahrungen als unglaublich schwierig heraus,
selbst wenn die Regie einem Raum einräumt, Veränderungen vorzunehmen und mitarbeitet.
Denn häufig sind sexistische und starre Geschlechtsbilder nicht leicht zu erkennen,
geschweige denn leicht zu vertreiben. Meistens wurzeln sie im Kern dieser Figuren und sind
bis in die zartesten Verästelungen der Sprache eingewachsen. Nimmt man Veränderungen
in den Kernstrukturen der Figur vor und/oder an der Peripherie ohne die Auswirkungen auf
die ganze Figur zu verfolgen und zu überdenken, findet man sich schnell im Chaos wieder
und weiss weder ein noch aus. Es ist nicht zu unterschätzen sich gegen die Intentionen
eines guten Autors zu stellen.
Das erlebte ich am eigenen Leib in der Arbeit am Stück „Zur schönen Aussicht“ von Ödön
von Horvàth. Ich und die Regie wollten die Figur der Christine, welche ich verkörperte, frei
machen von patriarchal klischierten Eigenschaften.
Auf den Proben, wie auch in den Aufführungen kam es dazu, dass ich regelrechte Kämpfe
mit Sätzen führte und nicht wusste wo das Problem lag, geschweige denn wie ich es lösen
konnte. Ich ahnte, dass diese Kämpfe etwas mit den Eingriffen in die Figur zu tun hatten. Da
ich den Überblick jedoch verloren hatte, konnte ich nicht rekonstruieren wie es dazu kam und
ich stellte mir die Frage ob es überhaupt möglich ist eine Figur anders zu spielen, als wie der
Autor sie gebildet hat.
Dass sich ein Schauspieler in einer Theatervorstellung in seiner ganzen Blösse zeigt, ist längst
nichts Aussergewöhnliches mehr. Ob in einer Performance-Gruppe, im Stadttheater oder auf einer
Provinzbühne, im ganzen deutschsprachigen Raum gibt es Produktionen, in denen inszenierte
Nacktheit vorkommt. Nicht selten finde ich mich jedoch nach einem Theaterbesuch in einem Gespräch
wieder, in dem ein Zuschauer konstatiert: „Der war doch wieder nur um des Skandals Willen
nackt.“
Erst am 15. August 2014 schrieb das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) über Olivier Dubois‘
Choreographie, die am Zürcher Theaterspektakel zur Aufführung kam: „Nicht berauschend, aber
ohne Kleider [...] Ob jemand über «Tragédie» von Olivier Dubois reden würde, wenn er sein Ensemble
nicht nackt tanzen lassen würde?“
Ein Klassiker unter den Kommentaren nach einer nackten Theaterdarbietung ist meiner Erfahrung
nach auch: „Die Nacktheit wäre nicht nötig gewesen.“ Nötig - über diese Formulierung stolpere ich
jedes Mal - was bedeutet „nötig“ im Zusammenhang mit Nacktheit? Wann ist im Theater etwas nötig?
Wenn es politisch ist? Oder gesellschaftskritisch? Für wen muss es nötig sein? Reicht Ästhetik
nicht aus als Grund für einen nackten Körper auf der Bühne? Oder gar Erotik? Ist jeder nackte Körper
auf der Bühne unweigerlich gesellschaftskritisch?
Etwas gilt als unnötig wenn es „keinerlei Nutzen oder Vorteil bringend“ ist. Im Bezug auf das Theater
stellt sich da meiner Ansicht nach ein Widerspruch her: Denn gerade in der Kunst soll es nicht
um Profit gehen, es muss nicht jede Handlung oder Entscheidung erklärbar sein.