Beschreibung | - Vor drei Jahren wurde ich von meiner Familie – halb freiwillig, halb unfreiwillig – in die Lage gebracht, im Familienunternehmen die Geschäftsleitung zu übernehmen. Dies geschah lange nach meinem Kunststudium, nach vielen Jahren künstlerischer Tätigkeit und nachdem ich einige Semester Kulturwissenschaften studiert hatte. In der neuen Situation werde ich täglich mit den vielschichtigen Leistungsanforderungen einer Unternehmerin konfrontiert. Diese Aufgabe bringt eine Dauermobilisierung im Zuständigkeitsbereich für Mitarbeiter*innen und für Kund*innen mit sich, für Projekte sowie deren zeitgerechte und profitable Umsetzung und für Geld, das nicht mir gehört – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Daher beschäftige ich mich neuerdings unaufhörlich damit, damit einhergehende Anforderungen wie Effektivitätssteigerung und Optimierungsimperativ zu hinterfragen und zu erkunden. Denn dieser Imperativ ist nicht nur von aussen gegeben, er ist unmittelbar verbunden mit der Individualisierung von Verantwortung – eine Anrufung zur Selbstverantwortung. Pointiert gesagt, befinde mich in der paradoxen Situation, zugleich eine spezifische Selbstoptimierung in Angriff zu nehmen als auch gegen Optimierungszwänge anzukämpfen.
Die Aufforderung «Handle unternehmerisch!», so der Soziologe Ulrich Bröckling1, ist zum kategorischen Imperativ der Gegenwart geworden. Er richtet sich heutzutage an alle Gesellschaftsschichten und ist einer der wesentlichen Faktoren für die kontinuierliche Entwicklung des Wunsches nach gesteigerter (Selbst-)Optimierung. Der Imperativ funktionalisiert das eigene Tun entlang der Markterfordernisse und formiert sich in Selbstbildung, Selbstkonzept, Selbststeuerung, Selbstkontrolle, Selbstdisziplinierung, Selbstbegeisterung, Selbstevaluation, Selbstentfaltung und Selbstmarketing. Durch das Verfolgen dieser Axiome wollen wir uns frei, selbstverwirklicht und glücklich fühlen. Dass wir dabei tatsächlich externen Standards entsprechen, legt dieser Imperativ nicht explizit offen – es ist dennoch die Realität. All diese Anforderungen sind auch in künstlerischen Berufen bekannt, und Untersuchungen zufolge, wie zum Beispiel von Luc Boltanski und Eve Chiapello2, tauchten sie dort sogar zuerst auf. Meine künstlerisch-wissenschaftliche Untersuchung besteht aus drei Teilen und erstreckt sich über unterschiedliche gesellschaftliche Felder. Das erste Teil besteht aus Selbstversuchen (introspektiv): Ich arbeite dabei mit meinem eigenen Körper, meiner Psyche und meinem Bewusstsein, angetrieben von der gefühlten existenziellen Notwendigkeit, den Erhalt und die Erneuerung unseres Familienbetriebs sicherzustellen. In meiner Funktion als CEO musste ich meine gewohnten Agitationsformen überschreiten und sah mich zugleich mit neuen Hindernissen konfrontiert. Um mir Mut für grössere Umstrukturierungen zu erarbeiten, besuchte ich Coaching-Stunden für Führungs- und Managementpersonen, Achtsamkeits- und Selbstfindungsseminare, Coachings für zentriertes Denken, Stimm- und Präsentationstrainings sowie Bewegungs- und Meditationstrainings zur Stressbewältigung. Meine Erfahrungen protokollierte ich sorgfältig in Forschungstagebüchern und Videoaufzeichnungen. Ich wollte festhalten, in wieweit diese Lektionen für mich hilfreich respektive in wieweit sie auch irritierend waren. Das aktive ‹Lernen› brachte mir einerseits Hilfsmittel näher, um meine berufliche Position optimaler nutzen zu können, eröffnete mir andererseits aber Perspektiven und Gestaltungsmöglichkeiten für alternative Modelle. Vor diesem Hintergrund wollte ich herausfinden, welche Resultate sich aus meinen ernsthaften Bemühungen ergeben hatten.
Die oben beschriebene introspektive Herangehensweise an den Untersuchungsgegenstand ergänzte ich parallel durch eine extrospektive Perspektive, die wissenschaftliche Erkenntnisse zu dem Phänomen der Selbstoptimierung berücksichtigt. Dazu zog ich einerseits die entsprechende (Fach-)Literatur heran und erarbeitete mittels Feldforschung sowie qualitativer Interviews eigene Daten. Ich bat Personen, die ich aufgrund ausführlicher Recherchen evaluierte, um Auskunft über jene Themen, die mich so beschäftigen. Ihre individuellen Sichtweisen sowie ihre Fachmeinung habe ich in Interviews eruiert. Auf diese Weise konnte ich sukzessiv meinen Wissensbereich erweitern, was wiederum Auswirkungen auf meine Haltung gegenüber (Selbst-)Optimierung, aber auch auf die ‹praktischen Erfahrungen› hatte. In einem dritten Schritt analysierte ich Videomaterial einiger Keynote-Speaker aus den Bereichen des Coachings, Consultings und Erfolgstrainings, deren Präsentationen auf öffentlichen Kanälen des Internets kursieren. Ihr einheitliches Mantra lautet beinahe immer: «Wenn ich es geschafft habe, dann kannst du es auch». Aus diesem Grund wirken ihre hochinszenierten Auftritte immer optimistisch und vermitteln den Eindruck, dass alle Fragen gelöst seien, wenn man sich nur genügend bemühe. Im künstlerischen Praxisteil meiner Masterthesis, dem Film «36 tasks...», werden ihre oft unheimlichen und orakelhaften Aussagen den bestürzend klaren Einschätzungen meiner Interviewpartner*innen, die sich mit den folgenschweren Seiten der untersuchten gesellschaftlichen Zwänge auseinandersetzen, gegenübergestellt. Meine eigenen Forschungstagebücher beziehungsweise Videoaufzeichnungen, die ebenfalls in den Film eingeflossen sind, sind ihrerseits von Müdigkeit, Ratlosigkeit und Stagnation, aber durchaus auch von Hoffnung und Erwartung, vor allem aber von Galgenhumor, geprägt. In der Abfolge der Sequenzen schält sich sowohl das Abgründige und als auch das Absurde unseres heutigen Lebensstils leibhaftig heraus.
1 Vgl. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. Originalausgabe. Frankfurt am
Main: Suhrkamp Verlag.
2 Vgl. Boltanski, Luc; Chiapello, Ève (2006): Der neue Geist des Kapitalismus. 1. Aufl. Konstanz: UVK.
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