Beschreibung | - Der Moment, in dem man als Ausbilder den Nachwuchs in die Welt entlässt, ist für beide Seiten ein entscheidender. Für die Jungdesigner ist es die Chance, gelerntes Wissen im Berufsleben weiter zu entwickeln. Für die Ausbilder ist es der Moment, in dem sich das Bestreben auszahlt, unser Ausbildungsprogramm nach den Bedürfnissen der Welt und den Fragen der Zeit auszurichten. Dieses stete Abgleichen ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, denn in unserer Dis- ziplin sind es die sich dauernd wandelnden Fragestellungen, Bedürfnisse und Möglichkeiten, die sich als Konstanten durch die Geschichte der Ausbildung und des Marktes ziehen.
Im Gegensatz zur Manufaktur und zum Kunsthandwerk verschreibt sich ein Industriedesigner der Aufgabe, Konsum- und Investitionsgüter für die serielle Massenfertigung formal zu entwerfen. Für diesen Entwurfsprozess handelt er im Spannungsfeld zwischen Schwerpunkten, die sich immer schneller verändern: die kulturellen und sozialen Bedürfnisse der angesprochenen Nutzergruppen, die technisch bedingten Produktionsmöglichkeiten sowie der verantwortungsvolle Einsatz von Ressourcen. Diese drei Eckpfeiler der Disziplin prägen die Entwicklungsgeschichte des Industriedesigns in immer wieder neu ausgerichteten Färbungen und Gewichtungen. Wir als Ausbilder von Industriedesignern an der ZHdK führen diese traditionelle Dreiteilung fort, indem wir sie auf die heutigen Anforderungen übertragen.
Bewährtes neu denken
Gesellschaftliche Fragestellungen, wie die nach der Auf- hebung sozialer Not, bestimmten schon früh die Themen des Bauhauses und des Werkbunds. Auch an der Hochschule für Gestaltung in Ulm wurde das nutzerorientierte Engage- ment für alltagstaugliche Produkte wieder aufgegriffen. Diese Ausrichtung, neue Bedürfnisse aufgrund wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen aufzuspüren sowie Lebens- umstände durch Design merklich zu verbessern, leitet auch unsere Untersuchungen.
Seit Anbeginn haben Industriedesigner Ergebnisse aus der Forschung für neue Produkte angewandt, sie haben kulturelle Umbrüche und grundlegende Veränderungen im Alltag mitgestaltet. In unseren anwendungsorientierten Entwicklungs- labors nehmen wir Resultate aus der Grundlagenforschung technischer Hochschulen wie der ETH auf, um auf kreative Weise Produktlösungen und Fertigungsverfahren auf dem neusten Stand der Technik zu finden. Diese sollen helfen, bestehende lebensweltliche Grenzen und Fähigkeiten zu erweitern. Eine ökologische Verpflichtung wird heute auch vom Indus- triedesign erwartet. Natur verklärende und handwerklich romantisierende Tendenzen bestehen zwar schon seit dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, sie vermochten und vermögen jedoch die industrielle Massen- produktion nicht wesentlich zu beeinflussen. Während mit der ersten Ölkrise in den 1970er-Jahren der gezielt zu beschränkende Ressourcenbedarf im allgemeinen Bewusst- sein der Bevölkerung an Bedeutung gewann, steht die gegenwärtige globale Industrie- und Konsumrealität zu diesem Bewusstseinswandel im eklatanten Widerspruch: Mit dem steigenden Konsum, der weltweit erhöhten Herstellung und Vermarktung von Gütern haben der Rohstoff- und Energie- verbrauch, die Müllproduktion und die damit einhergehende Natur- und Umweltzerstörung exponentiell zugenommen. Diese Umstände fordern die Industriedesigner heraus. Sie bauen ein besonderes Gestaltungswissen auf, um dazu beizutragen, allgemein eingeforderte Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.
Fragen stellen, Ärmel hochkrempeln und anpacken
Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die drei genannten Grund- aspekte des Produktdesigns mit der Kenntnis über die zahlreichen Widersprüche zu verbinden. Insbesondere die Schnittstellen zur Wirtschaft und zu den globalen Märkten zeigen für ein sozial und ökologisch ausgerichtetes Industrie- design weitere Dilemmata - und gleichzeitig Chancen auf. Industriedesign soll nicht zum hohlen Spektakel, zur Mode verkommen, sondern entspringt den Notwendigkeiten des Lebens. Vertiefte Form- und Materialstudien sind dafür unabdingbar. Mit der von uns gelehrten Methode des Design-Denkens bieten wir eine Herangehensweise an, um unlösbar erscheinende oder paradoxe Aufgabenstellungen zu entknoten. Wir bilden Industriedesigner in Sinne von Alltagsforschern und Problembewältigern aus. Hierfür lassen wir umfangreiche Fragenkataloge aufstellen wie: Für welche Gesellschaftsgruppen entwerfen und planen wir? Wie erkennen wir die Hintergründe und Bedingungen der an uns herangetragenen Aufträge? Wie können wir Produktwünsche analysieren und im Sinne einer Ressourcen- neutralität erfüllen? Welche Rolle kommt den neusten Technologien dabei zu? Welche emotionalen Bedürfnisse werden an zukünftige Produkte gestellt? Welche Rolle spielt die Sinnlichkeit in abstrakten Informations- und Dienst- leistungssystemen?
Unser diesjähriger Diplom-Jahrgang stellt sich diesem Kontext. Er zeigt die Fähigkeit, den Alltag kritisch zu hinter- fragen und durch unkonventionelle Herangehensweisen Mehrwert zu schaffen.
Mehrere Arbeiten beschäftigen sich dieses Jahr mit dem Verhalten in Extremsituationen. So vereinfacht ein in Zusam- menarbeit mit der ETH Zürich entwickeltes Dialysegerät ganze Behandlungsabläufe und steigert die Lebensqualität der Betroffenen. Im Bereich der Katastrophenhilfe wird die medizinische Grundversorgung durch die Neuentwicklung eines mit Empa-Technologie ausgestatteten Sauerstoff- generators auch an Orten aufrechterhalten, wo die Infrastruk- tur zerstört ist. Oder das Design schlägt eine Brücke in einer gespaltenen Gesellschaft und tritt über die Esskultur als Vermittlerin auf. Design erhöht die Sicherheit, wenn z.B. elektrolumineszente Materialien in die Alltagsmode übersetzt und die Sichtverhältnisse im Strassenverkehr verbessert werden. Oder, wenn bestehende Helmsysteme für Fallschirmspringer neu gedacht und mit neuen Kommuni- kationsmöglichkeiten ausgestattet werden.
Ressourcenfragen werden ebenfalls behandelt: So hat Design das Potenzial, festgefahrene Ernährungsgewohnheiten der westlichen Welt gezielt zu hinterfragen und die Chance zu eröffnen auf eine nachhaltigere, globale Lebensmittel- produktion. Und weil der Flugverkehr auch am Boden grossen Treibstoffverbrauch und Lärm verursacht, wird Design dazu eingesetzt, diese Emissionen mittels eines neuen Boden- transportsystems für Flugzeuge zu verringern.
Die genannten Beispiele führen vor Augen: Unsere Abgängerinnen und Abgänger verlassen die ZHdK als eine Gruppe von sensibilisierten und intellektuell geschulten Machern. Hartnäckiges Denken mit der Praxis verknüpfend, sind sie gewappnet, die Welt zu interpretieren und sich gegenwärtigen wie zukünftigen Herausforderungen zu stellen.
Wir möchten uns bei allen Beteiligten für ihre Hilfe und ihren Einsatz bedanken. Ohne sie wären die ausgestellten Arbeiten nicht möglich gewesen.
Unseren Absolventinnen und Absolventen gratulieren wir zu diesem wichtigen Lebensabschnitt. Wir sind überzeugt, dass ihr Esprit auch im späteren Berufsleben Früchte trägt.
Sandra Kaufmann und Nicole Kind
Leiterinnen der Studienvertiefung Industrial Design
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