Saiten – Ostschweizer Kulturmagazin zum Thema ERBSTÜCKE
Beschreibung
Wenn in der Natur oder Gesellschaft eine Geschichte über das Individuum hinaus weitergeschrieben wird, dann reden wir vom Erben. Erben erben Erbe. Alle übernehmen wir, was hinterlassen wurde oder dablieb, das ist die Gleichheit im Prinzip des Erbens. Was uns aber zufällt, ist sehr unterschiedlich, das ist die Ungleichheit darin. Es gibt, ganz naturhaft, Gewinner, aber auch Verlierer. In der Biologie vererben wir auch Defekte, in der Ökonomie auch Schulden, in der Klimatologie auch Dürren, in der Theologie auch Sünden.
Genetisch betrachtet erben wir – noch – alle gleich: Unsere Chromosomen-Ausstattung können wir nicht aussuchen. Wenn heute oder demnächst die für das gesteuerte Vererben geeigneten Technologien in Griffnähe sind, sind es auch die Ideen und Ideologien, die das Leben in lebenswert oder nicht lebenswert einteilen. So können Eltern-Individuen bald in die Lage kommen, von ihren Sprösslingen für unterbliebene Optimierungsmassnahmen vor Gericht gezogen zu werden. Und die Gattung Mensch ist jetzt schon in der Lage, die Geschichte der Natur mitzuschreiben und mitzuverantworten.
Kulturell betrachtet ist das Erben – zumal in einer vom Streben nach individueller Selbstbestimmung besessenen Gesellschaft – ein Widerspruch in sich. Kaum etwas akzeptieren wir als so unausweichlich wie das Weitergeben von materiellen und symbolischen Kapitalien an sogenannt Berechtigte. Ressourcen ganz anders weiterzugeben, kollektive Geschichten ganz anders zu schreiben, das Erbe der Idee des Erbens gar nicht anzutreten – all das erscheint uns widersinnig, wenn nicht sogar widernatürlich.
Dieses Heft, eine Kooperation von Saiten und der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK, handelt vom Erben. Beobachtend, erzählerisch und reflektierend lotet es aus, wie fatal oder künstlich, menschlich oder unmenschlich, sinnig oder widersinnig sich das Erben und Vererben in einer zum Park gewordenen Welt ausnimmt. Konzipiert, erarbeitet und in gestalterische Form gebracht wurden die 24 Doppelseiten von Franz Beidler, Laura Ferrari, Jonas Frehner, Valérie Hug, Julia Kohli, Claudio Landolt, Silvia Posavec und Eva Wittwer als Studierende sowie von Basil Rogger und Mihaly Varga als Dozierende im Master Kulturpublizistik der ZHdK.