Ausgehend von einem Interview mit den beiden Schweizer Schauspielerinnen Sabine Timoteo und Doro Müggeler über die Lust am Spiel, über Vertrauen und Machtmissbrauch am Set und wie sie gelernt haben, Nein zu sagen in der Zürcher Zeitung WOZ vom 1.3.2018, bin ich auf den Begriff „Anasyrma“, gekommen. Als Anasyrma wird die Geste bezeichnet, „mittels derer der Blick auf das weibliche Genital freigegeben wird“. Timoteo beschreibt eine kritische Situation, die sie als junge Schauspielerin auf einem Filmset erlebt hat. Sie hatte eine kleine Rolle als lesbische Frau und sollte mit ihrer Partnerin im Bett liegen. Im Drehbuch stand, die beiden Frauen seien abends im Bett am Lesen. Während des Drehs verlangte der Regisseur plötzlich von ihr, dass sie sich nackt ausziehen soll. Davon war aber davor nie die Rede gewesen. Im Wissen darüber, dass im Schweizer Fernsehen sowas nie gezeigt werden würde, „weil es dort nur Brüste zu sehen gibt, aber keine Schamhaare oder Schamlippen“, meinte Timoteo: „entweder ganz nackt oder mit T-Shirt und Unterhose“. Timoteo hatte dann „extra alles so richtig gezeigt“, hat also ihre Vulva entblösst. Die Szene konnte dann tatsächlich nicht verwendet werden, weil sie zu extrem war für das Schweizer Fernsehen. Somit hat Timoteo ihre Nacktheit, genauer genommen ihre Vulva, in diesem Moment als Statement oder als Waffe benutzt und die Situation zu ihren Gunsten umgedreht.
Anasyrma nennt sich diese Geste und sie ist als eine apotropäische Handlung, eine Abwehrhandlung, zu verstehen. Sie dient dazu, das Böse auszutreiben oder Unheil abzuwenden, Schaden fernzuhalten oder unwirksam zu machen. So finden sich in den meisten Mythologien Geschichten, in denen die Menschheit mindestens einmal durch die Zurschaustellung der Vulva gerettet wurde.6 Es gibt Überlieferungen von zahlreichen Sagen und Legenden, ebenfalls wurden über 30'000 Jahre alte figurative Vulva- Skulpturen gefunden. Das wohl berühmteste Beispiel der Anasyrma in der Moderne und gleichzeitig ein Meilenstein in der feministischen Kunst ist die Fotoserie „Genitalpanik“ von Valie Export von 1968, auf die im weiteren Verlauf dieser Arbeit Bezug genommen wird. Heutzutage fällt auf, dass gerade in der Kunst im Zuge der #MeeToo- Debatte viele Frauen auf die Handlung der Anasyrma zurückgreifen. Auch in der Literatur wimmelt es von Vulven. So hat Mithu M. Sanyal 2017 mit ihrem Buch „Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ eine Kulturgeschichte der Vulva geschrieben. Oder die schwedische Künstlerin Liv Strömquist hat 2014 den Comicband „Der Ursprung der Welt“ herausgegeben. Als ich meiner Kollegin, der Performerin und Regisseurin Antje Prust davon erzählt hatte, stellte sich heraus, dass sie sich gerade zum selben Zeitpunkt mit Anasyrma beschäftigte. Sie praktizierte die Geste sogar selber in ihrer neusten Performance „A circle of cunts protects me from ghosts“ im Rahmen der Zusatzreihe „Unlearning Patriarchat“ an den Berliner Festspielen 2018 praktizierte. Dies nahm ich zum Anlass, sie zu interviewen und mehr über Anasyrma zu erfahren.