So radikal und zum Teil beängstigend der gesellschaftliche Wandel sich derzeit vollzieht, so spannend sind die neuen Perspektiven, die sich für die Gestaltung von kreativen Arbeitsprozessen auftun […]. Das Theater könnte hier Vorreiter für den kulturellen Bereich sein.
Zu Anfang meines Masterstudiums im Herbst 2019 an der Zürcher Hochschule der Künste begann auch meine Arbeit als künstlerische Mitarbeiterin am Kulturhaus Helferei – einem einzigartigen Ort in Zürich. Mitten in der Altstadt ist es ein Ort, wo soziale Bedürfnisse auf vielseitige künstlerische Praxen treffen. Es ist ein Raum, an welchem man nicht von einem bestehenden Publikum ausgeht, sondern tagtäglich in Kontakt mit Menschen ist – mit Individuen, die unterschiedliche ästhetische Wünsche, verschiedene Sehgewohnheiten und Nöte haben.
Am Kulturhaus Helferei kann man sich nicht hinter einem Kunstwerk „verstecken“, sondern muss da präsent, sich nahbar machen, offen sein und sich immer wieder aufs Neue einlassen. Egal, ob man gerade darauf vorbereitet ist oder nicht.
Die Arbeit am Kulturhaus Helferei ist für mich dadurch immer wieder spannend und herausfordernd. Jeden Tag aufs Neue kommen andere Menschen und damit einhergehend neue Ideen und Weltansichten, die man antrifft. In dem Kulturhaus Helferei ist Gastfreundschaft fester Bestandteil des Programms. Hier hat alles und jede*r Platz. Parallelen und wider- sprüchliche Konzepte sind erwünscht und willkommen. Das Soziale und die Kunst geben sich die Hand, verbinden sich und entfalten unerwartete soziale und künstlerische Energien. Bisher nicht wahrnehmbares Potential wird dadurch sichtbar gemacht.
Mit der Linse des Sozialen, oder besser gesagt Menschlichen, die ich durch die Arbeit im Kulturhaus Helferei geschärft habe, habe ich auf mein Studium geblickt:
1.1 Einführung und Zielsetzungen dieser Arbeit
Ich hatte immer eine grosse Schwäche für Bücherkisten, wie sie vor Buchhandlungen oder Antiquariaten stehen: mit ausrangierten oder preislich reduzierten Büchern. Ein Grund für diese Vorliebe war auch, dass ich mir in meiner Jugendzeit ansonsten Bücher fast nicht hätte leisten können. Aber ein viel wesentlicher Aspekt war, dass ich nie wissen konnte, was ich darin finden würde. So bin ich unzählige Male auf Überraschendes und Neues gestossen. Für mich waren diese Funde immer mit dem Zufall verbunden, da ich nicht wissen konnte, was ich finden würde. Ich habe mir diese Vorliebe bis heute erhalten.
Im Leben und vielleicht noch viel konkreter, in den künstlerischen Prozessen der darstellenden Künste ist man immer wieder mit Zufällen oder zufälligen Begegnungen konfrontiert. Ereignisse, Wendungen und Einfälle, welche man in Vorfeld nicht hätte erwarten können. Sie geschehen und hinterlassen im Idealfall Spuren in der künstlerischen Arbeit. Dabei lassen sich diese Zufälle weder steuern noch bewusst erzwingen. Sie manifestieren sich und haben in ihrem Wesen etwas Leichtes und Flüchtiges, was ihre Anziehungskraft nur noch erhöht. Diese Faszination hat mich zu dieser vorliegenden Arbeit motiviert. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, mich nicht explizit auf das Feld des Theaters zu beschränken. Aber natürlich sollen und können die erarbeiteten Erkenntnisse auch immer für eine Theaterpraxis angewandt werden. Allgemein gesprochen bin ich erstaunt, dass wir dem Zufall nicht mehr Raum zugestehen. Wir handeln in Konzepten und vertrauen häufig auf unsere Gestaltungskraft, Intentionen und unseren handwerklichen und interpretatorischen Fähigkeiten. Lass wir ihm mehr Raum, diesem schwer fassbaren Ding Zufall.
«Ein guter Künstler[tje]* vertraut nicht nur [tjejs]* eigenem logischen Denkvermögen; stattdessen versteht [tjej]*, dass [tjej]* um etwas Neues zu entdecken, auch neue Wege gehen muss.»
1.1 Thema der Arbeit
In meiner Masterthesis im Fach der darstellenden Künste befinde ich mich auf der Reise von einer Wirklichkeit in eine andere. Auf dieser Gratwanderung ins Ungewisse lösen sich die Grenzen zwischen verschiedenen Bewusstseinsebenen auf und die Rezipierenden werden auf ihre eigenen Wahrnehmungsoptionen zurückgeworfen.
1.2 Instinktutionelle Einleitung
Als Instinktut für angewandte Normverschiebung erforsche ich die Handlungsspielräume jenseits des Normalen. Das Wissen entsteht intern, intuitiv und instinktiv und ist somit direkt verbunden mit dem natürlichen Leben. «Instincts are unmediated and involuntary. We cannot will them or wish them away. They are all feeling and no formulation. Just like breath, instincts are innate and housed in the body without rational thought or conscious control. Sentient creatures in the primal state are governed by reactions that are unquestioned and immediate, allowing them to adapt to and engage their earth-bound environment with urgency if need be. They are adept at playing with extremes of light and dark; presence and absence; solidity and instability. They act and react with an animal wisdom that is inborn and automatic.»
Diese ganzheitliche Herangehensweise des Untersuchens bezieht Körper und Geist gleichermassen mit ein.
«Die Lust am Text, das ist jener Moment, wo mein Körper seinen eigenen Ideen folgt – denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich.»
Das Schreiben ist ein körperlicher Prozess und eine bewusstseinserweiternde Erfahrung.
Die Verfassung dieser Thesis bewegt sich mit ihrem Inhalt.
Die Erfassung dieser Thesis entdeckt neue Unmöglichkeiten.
Die Auffassung dieser Thesis mit dem Verstand ist nur eine Version.