Im Sommer 2015 war ich als Schauspielerin mit der Compagnie Trottvoir und ihrem Stück SOFORT SAVOIR VIVRE auf einer vierwöchigen Tour durch die Schweiz.Durch die gesammelten Erfahrungen dieser Tournee, habe ich Einblick in eine mir neue Arbeitsweise erhalten, die sich von der herkömmlichen Stadttheater-Arbeit eines Schauspielers unterscheidet. Das Setting der Freiluftinszenierung verlangt eine andere, grössere, vereinfachte Spielweise des Schauspielers, als diese im herkömmlichen schwarzen Theaterraum gefragt ist. Diese Spielweise und deren Funktionsweise, auf und hinter der Bühne, möchte ich in dieser Arbeit untersuchen. Die Beschaffung der Bewilligungspapiere für die jeweiligen Städte gehört ebenso dazu wie die körperliche Arbeit der Schauspieler. Ich versuche also die erforderliche Arbeitsweise des Strassentheaters zu analysieren und zu definieren, um daraus die These zu belegen: Das Strassentheater verlangt eine andere Arbeitsweise des Schauspielers als das herkömmliche Theater. Ich werde die vollständige Arbeit der letzten Produktion „SOFORT SAVOIR VIVRE“ chronologisch aufarbeiten. Die Proben, sowie die Vorstellungen werden ich vorstellen und mit bisherigen Theaterkonzepten, wie zum Beispiel Augusto Boals Theater der Unterdrückten vergleichen. So wird sichtbar, wo die Arbeit des Schauspielers im Strassentheater anfängt und aufhört.
Der Urheberrechtsstreit im Frühling 2015 um die Castorfer Baal-‐Inszenierung hat mich für ein Konzept interessiert, das regelmäßig die Debatten um das zeitgenössische Theater beherrscht. Das Konzept der Werktreue. Die Aufführung, die am 15. Januar 2015 am Münchner Residenztheater Premiere hatte, wurde schließlich nach einem Vergleich abgesetzt. Der Verlag hatte geklagt, die „Werkeinheit“ sei aufgelöst worden. Der Originaltext sei „nicht-‐autorisiert“ bearbeitet worden. Ohne Absprache habe Castorf Fremdtexte verwendet. Als Schauspielerin wurden für mich die Fragen nach Werktreue und Autorenrechte relevant bei meiner Mitarbeit in der Inszenierung" Der grosse Marsch" von Wolfram Lotz (Regie: Franz-‐ Xaver Mayr). Bei der Bearbeitung stand die Frage im Raum, ob die Veränderungen für den Autor und den Verlag legitim wären. Was aber wäre eine „werkgetreue“ Inszenierung? Wie viele Striche wären erlaubt? Wieviel Fremdtext? Und ist „textgetreu“ gleich „werkgetreu“? Und inwiefern lässt sich der Begriff Werktreue auf die Adaption einer epischen Vorlage anwenden? Bieten möglicherweise Romanadaptionen per se mehr Freiheiten und sind deshalb zunehmend attraktiv für das zeitgenössische Regietheater geworden?
2013 erschien im Verlag Theater der Zeit ein Werk des Dramaturgen, Bernd Stegemann, mit dem Titel „Kritik des Theaters“. Im Zentrum steht eben jene Frage nach der politisch/kritischen Wirkungsweise des Theaters in der kapitalistischen Gesellschaft. Das Werk kritisiert die zeitgenössische Weise des Theaterschaffens, die sich seit den 90er Jahren durch die Einflüsse der performativen Wende entwickelt hat und stellt dem die Forderung nach traditionelleren, wieder einfacher zu lesenden und klar zu interpretierenden Formen des mimetischen Schauspielens entgegen.
Es soll im Folgenden Bernd Stegemanns „Kritik des Theaters“ als Ausgangspunkt für zwei wesentliche Entwürfe des Schauspielens und der Figurenbehandlung genommen werden, die im zeitgenössischen Theater besonders relevant erscheinen. Man könnte diese auch zusammenfassend als den „mimetischen Schauspieler“ und den „postdramatischen Schauspieler“ bezeichnen. Welche grossen Regieideen stehen dahinter und welche, wenn überhaupt eine der beiden, eignet sich für ein gesellschaftsrelevantes Theaterschaffen?
„ Nicht alles, was wahr ist, ist gut. Manche Wahrheiten sind nicht gut. Wie das Aufrollen dieser Geschichte“. Diese Aussage macht Adi Zulkadry in einem Interview mit Joshua Oppenheimer, dem Regisseur von The Act of Killing. Als ehemaliger Leiter eines Todeskommandos ist Zulkary verantwortlich für den Tod einer Vielzahl von Menschen, die während der Massaker 1965-66 in Indonesien ermordet wurden. Die Aussage aus dem Film ist ein direkter Verweis auf die Fragestellung, was dokumentarisches Arbeiten heute bedeutet und welche Formen man wählen kann um eine Auseinandersetzung mit geschichtlichen Ereignissen zu unterstützen. Dass der Protagonist im Drehprozess auf diese Thematik stösst scheint zufällig, erzeugt jedoch einen schönen Verweis auf die Thematik der Dokumentalität, einem Begriff der vor allem von der Filmemacherin und Autorin Hito Steyerl geprägt ist. Steyerls Arbeiten bewegen sich zwischen den Grenzen von Film und Bildender Kunst, Theorie und Praxis, was sie den Begriff wie folgt beschreiben lässt:„ ,Dokumentalität' ist eine Wortneuschöpfung in Anlehnung an «Fiktionalität» und deutet damit auf ein interessantes Kennzeichen der dokumentarischen Strategien in der Kunst“.
Steyerl weisst in ihrer Begriffsdefinition auf den Aspekt der Fiktionalität hin, dessen Beitrag im Bezug auf dokumentarisches Arbeiten im weiteren Verlauf dieser Arbeit thematisiert wird. Zunächst ist es jedoch interessant, dass bereits hier, in der Originalfassung des Filmes, eine Reflexion über die Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsanspruch des Dokuments enthalten ist. Es ist unwahrscheinlich, dass das Eingangs erwähnte Interview das Ziel hatte, eine theoretische Debatte über diesen Anspruch zu führen - es scheint viel mehr das Ergebnis unmittelbarer Kommunikation des Filmemachers und seines Protagonisten zu sein.
Nichtsdestotrotz bietet es sich im Hinblick auf die Thematik dieser Arbeit als Ausgangspunkt an.
Im Januar 2016 und damit am Ende meines Schauspielstudiums angekommen, wird ein Blick zurück gewagt: Die oben umrissene Zeit zwischen Anfang 2011 und Ende 2015 ist eine sehr poli-tische Zeit. Sie ist geprägt von Revolution, Krieg, Terror, Flucht und dem Erstarken von rechts-nationalistischen Bewegungen und Parteien in Europa. All dem zugrunde liegt das gegenwärtige kapitalistische System, von dem an erster Stelle die westlichen Staaten profitieren. Ich habe in dieser Zeit meine Schauspielausbildung durchlaufen und wurde so auch von ihr geprägt. Im Sommer werde ich nun mein Erstengagement am Theater antreten.
Dieser Einstieg in die Berufswelt stellt mich, gerade im Zusammenhang mit den oben geschilder-ten Geschehnissen, vor wichtige Fragen. Meine bisherige Theaterarbeit fand, bis auf wenige Aus-nahmen, im Schutz der Hochschule statt und wurde so auch durch diese legitimiert. Natürlich wurde während des Studiums die politische Dimension von Theater thematisiert und teilweise auch erprobt, doch der Schutz der Institution bleibt. Wie geht also das Theater, da draussen, mit dieser politischen Dimension um? Ist das Theater automatisch der Spiegel der Gesellschaft? Reicht es, Klassiker immer wieder aufzuführen, jeweils angepasst auf die aktuelle politische Lage? Reichen collagierte Abende zu Pegida? Reicht es, Flüchtlingen Raum auf der Bühne zu geben, oder muss darüber hinaus mehr getan werden? Oder sollte man sich gänzlich von dieser Idee verabschieden, wie es Alvis Hermanis tut? Kurz: Ist politisches Theater an einem Stadttheater, dessen hierarchische und antidemokratische Struktur den Idealen unserer Gesellschaft in keinster Weise entspricht, überhaupt möglich? Dieser Frage will ich in dieser Arbeit anhand von René Pollesch nachgehen. René Pollesch prägt schon seit längerer Zeit die Spielpläne der grossen Theater im deutschspra-chigen Raum und "fungiert [...] als einer der zentralen Referenzpunkte der aktuellen theaterwissenschaftlichen Debatten über den Begriff des politischen Theaters."24 Sein Ansatz ist gleichblei-bend, aber unkonventionell, auch wenn sich die Zuschauer vielleicht im Laufe der Jahre daran gewöhnt haben. Doch reicht es, ein Konzept immer wieder zu wiederholen?